37. Kapitel - Ihre Stimmen

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Außer Atem fuhr ich mir mit dem Handrücken über die Stirn, bevor ich noch mehr Mehl auf dem dünnflüssigen Teig verteilte. In dem Rezept hieß es, man sollte ihn fast schon kneten können, aber diese Flüssigkeit da in der Schüssel war nicht einmal greifbar.

Hilflos blickte ich in Richtung Flur. Elif hatte die Tür geschlossen, sodass ich seit Stunden keinen Menschen außer ihr gesehen hatte. Die drei ersten Gebäcke hatte ich schon länger fertig gestellt und versuchte mich bereits an den nächsten Rezepten, als sie das nächste Mal zu mir nach hinten kam.

„Sieht so aus, als würde es ihnen schmecken." Sie blieb im Türrahmen stehen und beobachtete mich dabei, wie ich verzweifelt noch mehr Mehl in den Teig kippte. „Kommst du zurecht?"

Ich entgegnete ihren Blick, um sicher zu gehen, dass sie die Frage auch wirklich ernst meinte. Anscheinend tat sie das.

„Mein Ergebnis sieht nicht so aus, wie es aussehen sollte", gab ich zu. Sie kam zu mir und schien das Rezept kurz zu überfliegen, bevor sie mich angrinste. „War bei mir genauso. Sollte aber auch so funktionieren."

Sie hüpfte auf den Tresen und setzte sich neben mich. „Lust auf eine kurze Pause?", fragte sie, während sich ein Grinsen auf ihre Lippen legte. „Grace singt gleich." Meine Augenbrauen wanderten in die Höhe. „Grace?"

Elif nickte freudig. „Die Freundin von William." William war vermutlich der Mann, den ich heute Morgen kennenlernen durfte. Ich lächelte und nickte. „Warum nicht?"

Mit diesen Worten gingen wir gemeinsam den Flur entlang und traten durch die Tür direkt hinter die Theke. Das Restaurant war mittlerweile deutlich voller geworden als noch vor wenigen Stunden. Draußen war es bereits dunkel, sodass die gelben Lichter an der Decke eingeschaltet waren.

„William darf nicht wissen, dass du hier vorne bist, deshalb setz sich am besten dahin." Elif deutete auf den kleinen Stuhl hinter der Theke, der durch die Flaschen auf dem Tresen etwas verdeckt blieb. Ich nickte und ließ mich auf den Stuhl sinken.

„Grace singt mittlerweile auch in größeren Clubs und hat ihren eigenen Youtube-Kanal. Die kommt hier eigentlich nur noch wegen William hin. Sie hat hier angefangen, nachdem die beiden zusammengekommen sind und danach hat er ihr die kleine Bühne dort geschenkt." Sie nickte in die Richtung des kleinen Podiums. „Theoretisch hat er aber nur'n Mikro drauf gestellt und die Tische verschoben. Für Grace war das aber ein ziemlich großes Ding." Elifs Blick schweifte zurück zu mir. „Und wenn ich ehrlich bin, singt sie gar nicht mal so schlecht." Sie beugte sich leicht in meine Richtung, nachdem sie zwei Gläser auf den Tresen gestellt hatte. „Aber das mit der Sympathie hat sie noch nicht so ganz aufm Kasten." Elif griff nach einer Flasche zu ihrer Linken und füllte die beiden Gläser bis zum Rand.

Ich sah ihr wortlos dabei zu. Das alles hier hatte ich mir so komplett anders vorgestellt. Irgendwie strenger. Nicht so einfach.

Gerade als Elif mir fragend das Glas zuschob, trat eine blonde Frau auf die kleine Bühne. Ihr Blick glitt erwartungsvoll in unsere Richtung, bevor ich Elif verwirrt dabei zusah, wie sie schnellen Schrittes auf die Bühne lief und sich vor eine kleine Musikbox hockte. Neugierig lehnte ich mich ein wenig weiter über den Tresen.

„So meine Lieben, mein Name ist Grace, aber da mich die meisten ja bereits kennen, möchte ich euch nicht weiter auf die Folter spannen und anfangen. Elif, wärst du soweit?" Ihr Blick glitt etwas gestresst zu Elif, die nun aufstand, Grace zum Schluss etwas zuflüsterte und anschließend zurück zu mir lief.

Sie griff in ihre hintere Hosentasche und zog ein Smartphone heraus, dessen Display mit Rissen übersät war. Plötzlich hallte eine Melodie durch den Raum und Elif lehnte sich seufzend wieder gegen die Theke. „Endlich." Sie sah zu mir, während ich Grace mit großen Augen beobachtete. „Alles gut bei dir?" Verwirrt erwiderte ich Elifs Blick. „Ja, wieso fragst du?"

Als Antwort zuckte sie nur mit den Schultern. „Ich weiß nicht, sag du es mir." Mein Blick glitt wieder zu Grace, die gerade anfing zu singen. „Ich habe lange keine Musik mehr gehört." Nervös bohrten sich meine Nägel in meine Handfläche. Ob William ihr gesagt hatte, dass ich hier eigentlich gar nicht sein durfte?

„Na dann?" Sie nahm ihr Glas in die Hände und wandte sich wieder der Bühne zu.

Grace hatte eine wunderschöne Stimme und mit dieser Meinung war ich anscheinend nicht alleine. Alle Blicke waren aufmerksam auf die Bühne gerichtet, abgesehen von dem jungen Pärchen in den hinteren Reihen, das sich gegenseitig anlächelte und sich leise unterhielt.

Als Grace eine besonders hohe Strophe sang, kam sie ein wenig ins Stolpern, schien sich davon aber nicht beirren zu lassen. Als sie das erste Lied beendet hatte, antwortete ihr das Publikum mit einem kleinen Applaus.

Elif stellte seufzend das Glas beiseite, an dem sie zuvor noch genippt hatte, und griff wieder nach ihrem Handy. Ein paar Sekunden später dröhnte eine neue Melodie durch die kleine Musikbox an der Bühne und Grace lächelte zufrieden, bevor sie zum nächsten Lied ansetzte. Vereinzelte Gesprächsfetzen drangen zu uns, was Grace auch nicht zu entgehen schien. Genervt schloss sie die Augen, sang jedoch weiter.

„So ist das immer", flüsterte Elif mir zu. „Am Anfang hören noch alle zu und dann ist sie nur noch Hintergrundmusik." Sie grinste mich schräg an. „Willst du noch ein bisschen zuhören, dann übernehme ich deine Arbeit hinten", bot sie mir an, aber ich schüttelte lächelnd den Kopf. „Danke, aber ich glaube, ich sollte lieber wieder zurück nach hinten gehen."

Sie zog die Stirn in Falten. „Okay?" Widerwillig zuckte sie mit den Schultern. „War sowieso nur ein Test." Ich lachte leise. Ich war mir ziemlich sicher, dass dem nicht so war. Seufzend stützte sich Elif auf die Theke und sah Grace zu, die bereits das nächste Lied einstimmte. „Dann ab mit dir." Ihr Blick glitt zu mir.

Ein letztes Mal schaute ich zur Bühne, bevor ich zurück in die Küche ging und da fortfuhr, wo mich Elif unterbrochen hatte.

Früher hatte Muma mir immer beibringen wollen, wie man kochte, aber ich hatte jedes Mal aufs Neue eine Ausrede gefunden und mich lieber anderen verborgenen Leidenschaften gewidmet. Als ich fünfzehn geworden war, hatte ich mich nicht mehr drücken können. Ich konnte sie noch sehen, wie sie dagestanden hatte. Ein friedliches Lächeln auf den Lippen, die Hände in der orangen Schüssel, als würden sie ganz genau wissen, was sie tun müssten. Von draußen knallte die Hitze gegen die große Fensterfront im Esszimmer, sodass die Sonnenstrahlen bis in die Küche reichten. Mein Blick wanderte nachdenklich zu den Augen meiner Mutter. Sie schien das Gefühl zu lieben, das sie empfand wenn sie backte.

 Wieder versuchte ich die Erinnerung zu verdrängen.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt