3. Kapitel - Die Blüten meiner Heimat

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„Hey", flüsterte ich und berührte Malek leicht, um ihn aufzuwecken. Ich stand bereits seit ein paar Minuten wieder auf den Beinen und hatte meinen Rucksack eng um die Schultern gezogen, bevor ich den Knoten gelöst und mit Aadil vom Baum gesprungen war.

Maleks Körper zuckte, während sich seine Augenbrauen unruhig zusammenzogen. Ich wusste nicht, wie ich ihn wecken konnte, ohne dass er sich erschreckte.

Ich will nicht, dass er Angst hat.

„Malek? Wir müssen", weiter kam ich nicht, denn er fuhr so plötzlich hoch, dass ich vor Schreck mehrere Schritte rückwärts stolperte. Er blinzelte dem Sonnenlicht irritiert entgegen, bevor er mich entdeckte und sich unsere Blicke trafen. Auf einmal fing Aadil an zu lachen. „Tut mir leid", presste Malek hervor, nachdem Aadil sich beruhigt hatte und meine Augen zu seiner Brust glitten, die sich eilig hob und senkte. Ich schüttelte den Kopf und lächelte leicht, ehe ich ihm die Hand hinhielt, damit er vom Baum steigen konnte. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen."

Mit einer flüssigen Bewegung band er sein Seil los und griff nach meiner Hand. „Hast du gut geschlafen?", fragte er, wobei er sich seinen Rucksack über die Schulter warf und nach meiner freien Hand griff. Als Antwort schüttelte ich den Kopf. Die Äste knackten unter unseren schnellen Schritten, während wir losliefen. Der Boden war steinhart.

„Was frag ich überhaupt?", murmelte Malek. Ich blickte zu ihm, während ich sanft seine Hand drückte. Die Albträume waren zu unseren ständigen Begleitern geworden und klimperten nachts wie dilettantische Traumfänger über unseren Köpfen.

Manchmal wirken sie so real, dass man beim Aufwachen vergisst, sich daran zu erinnern, dass sie nur Träume sind.

So wie ich gelegentlich vergaß, dass wir nicht für immer auf der Flucht sein würden. Die Vorstellung, irgendwann wieder in einem normalen Bett und nicht auf Bäumen zu schlafen, war manchmal so absurd, dass sie an einigen Tagen gemeinsam mit der Sonne unterging.

Während wir weiter durch die unberührte Landschaft strichen, lauschte ich meinen Hoffnungen, die leise in meinen Ohren summten und meine Gedanken wärmten. Bald würden wir an dem Boot ankommen, dass uns nach Griechenland zu Oma bringen würde. Dort würden wir schlafen, ohne dass unsere Ängste uns wach hielten. Essen, ohne darüber nachzudenken, ob wir noch genug für Morgen hatten.

Meine Erinnerungen, an den kleinen Vorort von Athen, in dem meine Großmutter lebte, waren verblasst, aber ich wusste noch, dass es dort warm war. Ich wusste, dass es ein Ort war, an dem Aadil mit Liebe aufwachsen konnte.

Es wird seine Heimat werden.

Vielleicht kämpften Malek und ich so sehr darum, für Aadil ein zu Hause zu finden, in dem er sicher groß werden würde, weil wir es verloren hatten. Wir waren in einer Heimat aufgewachsen, die uns in Nestwärme wog, ehe wir dabei zugesehen hatten, wie sich unser Land entzweite und sich die Menschen anfingen zu bekriegen.

Das war unser Zuhause.

Etwas Warmes lief über mein Gesicht und ich löste erschrocken meine Hand von Maleks, als ich merkte, dass es Tränen waren. Eilig wischte ich sie wieder weg, während Aadil interessiert den Kopf hob und sich ein breites Grinsen auf seine kleinen Lippen legte. Als seine großen Zahnlücken zum Vorschein kamen, entfuhr mir ein wehmütiges Lachen, bis er plötzlich seine winzige Hand ausstreckte und mir übers Kinn fuhr. Ich hätte fast schon wieder anfangen können zu weinen, als er mir stolz eine Träne auf seinem Zeigefinger entgegenhielt. Kopfschüttelnd strich ich ihm sanft über den Hinterkopf.

Griechenland würde seine Heimat werden, da war ich mir sicher, denn ich wollte nicht, dass er diesen Krieg sah, wenn er an sein Zuhause dachte. Syrien war mehr als nur Angst und Schrecken. Unser Land war so viel schöner als die Bilder, die man in den Nachrichten zeigte. Daran dachte man selten. Sogar wir vergaßen oft, was unter den lauten Toden verborgen lag. Etwas, das auch auf dem Ruin dieses Krieges wuchs. Die Blüten meiner Heimat. Die Überlebenden, die dieses Land nicht nur durch Krieg und Grauen determinierten.

Denn wir waren noch da.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Sonne schien schüchtern durch die Baumkronen und ließ die Schatten der Äste wispernd über den Boden tanzen. Meine Augen schlossen sich von alleine, als mir der Geruch von feuchter Erde in die Nase stieg.

Unser Boot würde um 8 Uhr ablegen. Bis dahin mussten wir an Bord sein. Durch einen Freund meiner Eltern, Halim, hatten wir einen Platz auf seinem Boot bekommen. Ich wusste nicht viel über seine Arbeit, aber anscheinend schleuste er häufiger mal Flüchtlinge von der Türkei nach Griechenland.

„Wie viel Uhr ist es?", fragte ich leise und Malek hob seine Hand. Papa hatte ihm seine alte Uhr geschenkt, bevor wir uns trennen mussten. Malek hatte ihm versprochen, sie ihm wieder zurückzugeben, sobald sie uns nachkommen würden. Meine Eltern waren bei Ryan geblieben, nachdem er uns erklärt hatte, dass es unkomplizierter werden würde, wenn wir versetzt aufbrachen. Falls wir als eine fünfköpfige Familie irgendwo Zuflucht hätten suchen müssen, wäre es schwer geworden, eine zu finden. Als ein einfaches Ehepaar oder eine Gruppe Jugendlicher würde es einfacher werden. Abgesehen davon, waren die gefälschten Pässe meiner Eltern anscheinend schwerer zu besorgen als unsere, da Papiere für Jugendliche häufiger beantragt wurden, als die von Erwachsenen.

„Sechs Uhr vierunddreißig."

Ich fuhr mir mit der Zunge leicht über die trockenen Lippen und knibbelte mit den Fingern an einem kleinen Hautfetzen, das sich langsam von meiner Lippe pellte. Ich zuckte leicht zusammen, als ich es abriss und sich ein metallischer Geschmack in meinem Mund ausbreitete.

Abrupt ließ ich die Hand sinken und legte sie stattdessen um Aadil, ehe ich ihn fester an meine Brust presste. Er hob den Kopf und begegnete meinem Blick. Er hatte große Augen. Augen, die umarmen konnten. Ich liebte sie.

Als er sich müde über die Augen fuhr, lächelte ich und legte eine Hand auf seinen Hinterkopf, um ihn wieder sanft an meine Brust zu drücken. „Schlaf weiter."

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now