46. Kapitel - Vaterlos

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Am nächsten Morgen war ich schon vor den anderen auf den Beinen. Ryan schlief außergewöhnlich lange. Was die Unruhe, die seit gestern wieder lauter in mir tobte, etwas besänftigte.

Ich hatte frühmorgens alle Flaschen aus unseren Rucksäcken geholt und sie gemeinsam mit Saki aufgefüllt. Als ich zurückkehrte, saß Tarek mit halb geschlossenen Augen im Schneidersitz auf seiner Matratze und schaute genervt zu Ryan hinauf, der mit verschränkten Armen vor ihm stand und auf ihn einredete. Mein Blick glitt lächelnd zu Malek, der mit gerunzelter Stirn auf das Klapphandy in seinen Händen blickte. Mein Lächeln bröckelte, als ich sah, wie erschöpft er wirkte. Vielleicht war er noch müde vom Schlafen. Um mich abzulenken, musterte ich Aadil, der immer noch auf meiner Matratze döste.

„Da ist sie doch", murmelte Tarek seufzend und nickte in meine Richtung. Ryan schoss herum. „Wo warst du?"

Als Antwort hob ich die Flaschen hoch, bevor ich bei ihnen ankam und sie wieder in unseren Rucksäcken verstaute.

„Ich muss los. Bis später Leute", erhob Malek zum ersten Mal an diesem Tag das Wort. Ich runzelte die Stirn. „Wohin gehst du?"

Er schaute mir nicht in die Augen, als er aufstand und als Antwort mit den Schultern zuckte. „Dreh mit ein paar Freunden eine Runde", nuschelte er und schwang sich den alten Rucksack über die Schulter. „Bis dann."

„Pass auf dich auf, okay?", bat ich leise und hoffte inständig, er würde aufblicken und bleiben, aber Malek nickte nur, bevor er in der Menge verschwand.

Tarek, Ryan und ich aßen die kleinen Brötchen, die Ryan am vorigen Tag irgendwo für uns hatte mitgehen lassen und unterhielten uns überwiegend über Tareks Talente als beschäftigter Handwerker. Auch wenn er uns mehrmals klarzumachen versuchte, dass es wenig mit Handwerk, sondern eher mit Schubkarren schieben und irgendwelche „scheißschweren" Steine von a nach b zu transportieren, zu tun hatte.

„Wir sollten los", richtete sich Ryan nach einer Zeit an mich und ich schluckte nervös. Mir war sofort klar, was er meinte. Gestern Abend hatte er mir erklärt, dass sein Vater drei Stunden von hier entfernt wohnte, was mich nicht überraschte. Würde er direkt um die Ecke wohnen, hätte das Schicksal vermutlich offiziell ein Problem mit uns.

Ich nickte und griff nach seiner Hand, die er mir abwartend entgegenhielt. Ryan hatte mir auch erzählt, dass sein Vater eine halbe Stunde von hier entfernt auf uns warten würde, um uns abzuholen.

„Bis später, Tarek", verabschiedete ich mich von ihm, während er Aadil von meiner Matratze hob und ihn sich auf den Schoß setzte. „Lasst uns ruhig zurück", entgegnete er trocken, während mein Bruder leise brummte und ich automatisch grinsen musste.

Etwas unbehaglich folgte ich Ryan nach draußen. „Wie heißt er eigentlich?", fragte ich, als mir auffiel, dass ich die ganze Nacht über einen Mann nachgedacht hatte, dessen Name ich nicht einmal kannte.

Ryans Kiefer zuckte angespannt, während er mir antwortete. „David", er schloss kurz die Augen. „Er heißt David."

***

Die halbe Stunde, bis wir am Treffpunkt ankamen, verging schneller, als ich vermutet hatte. Wir warteten etwas abseits einer abgelegenen Bushaltestelle. Bei jedem Auto, das an uns vorbeifuhr, geriet meine Atmung für einen Moment ins Stocken und mein Herz setzte für einen Schlag aus.

Gerade als ich fragen wollte, ob wir ihn vielleicht lieber anrufen sollten, hielt ein schwarzes Auto vor uns. Meine Kinnlade klappte hinunter und ich war unfähig, irgendwo anders hinzusehen als auf das glänzende Familienauto, das dort vor uns parkte. Das polierte Metall des Wagens reflektierte das Sonnenlicht und schien beinahe zu schimmern, als sich die Fahrertür öffnete.

Ich erstarrte zu einer Salzsäule, als ein Mann aus dem Auto stieg und mit einem strahlenden Lächeln auf Ryan und mich zukam. Meine Augen glitten von seinen graumelierten Haaren, die er ordentlich nach hinten gekämmt hatte, über ein faltenloses, weißes Hemd, dessen Ärmel sorgfältig aufgekrempelt waren, und weiter zu einer dunkelblauen Anzugshose, bevor sie an der silbernen Uhr, an seinem Handgelenk hängenblieben.

Ich war mir nicht mehr sicher, was ich erwartet hatte.

Aber das ganz sicher nicht.

„Ryan?", brach David das Schweigen.

Mein Blick löste sich von dem Mann und ich sah zu Ryan, der immer noch neben mir stand und ausdruckslos von dem schwarzen Auto und zurück zu seinem Vater sah.

„Ich kann einfach nicht glauben, dass du es bist!" David strahlte über beide Ohren. „Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du noch so winzig." Er deutete auf die Höhe seiner Knie. Ein Lachen entfuhr ihm und ich schluckte nervös.

„Ist auch eine Weile her." Ryans Kiefer spannte sich an, während er David immer noch anstarrte, als stände vor ihm ein Fremder und nicht sein Vater. Was gewissermaßen auch stimmte.

David lachte wieder, auch wenn es eher nervös und aufgesetzt klang. „Ich sehe, du hast jemanden mitgebracht." Sein Blick blieb das erste Mal für längere Zeit an mir hängen, bevor er auf mich zutrat und mir die Hand entgegenhielt. „Schön Dich kennenzulernen", er lächelte mich freundlich an und ich beschloss, es ebenfalls zu versuchen. „Hallo", krächzte ich und ergriff seine Hand. Ich hoffte inständig, dass er meinen Akzent nicht sofort zuordnen konnte, auch wenn das unausweichlich war, angesichts der Tatsache, dass wir den restlichen Tag mit ihm verbringen würden.

Ryan griff abrupt nach meinem Rucksack, den ich neben meinen Füßen abgestellt hatte und ging in Richtung Auto. „Können wir?"

David schien einen Moment verblüfft über Ryans abwehrende Reaktion auf ihn und ich lächelte ihn höflich an, als er mich daraufhin fragend ansah. Ein paar Sekunden später drehte er sich jedoch ebenfalls zum Auto und öffnete die Beifahrertür, damit sein Sohn einsteigen konnte.

Ryan tat so, als hätte er die aufmerksame Geste seines Vaters nicht bemerkt und öffnete stattdessen die Hintertür. Davor hielt er noch einmal inne, fuhr herum und starrte mich an, als wäre er in diesem Moment überall lieber als hier.

Ich löste mich aus meiner Starre und kam auf ihn zu, während ich versuchte, das Lächeln aufrechtzuerhalten, das auf meinen Lippen klebte. Ich stieg auf der anderen Seite ein, bevor ich schweigend auf die Rückseite des Vordersitzes starrte. Es roch nach Pfefferminz und Desinfektionsmittel. Ich holte tief Luft.

Ich musste mich entspannen. Wir mussten uns beide entspannen.

Bis jetzt machte Ryans Vater schließlich einen recht freundlichen Eindruck. Das Bild, das sich innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden in meinem Kopf von ihm gebildet hatte, war zwar bereits in alle Einzelteile zersprungen, noch bevor er überhaupt die Fahrertür aufgemacht hatte, aber das war vermutlich sogar ein gutes Zeichen.

Ich spürte, wie sich Ryan neben mir niederließ und hörte wie sich die Fahrertür schloss, bevor der Motor aufheulte und David losfuhr.

Ryan wollte mit seinem Vater den restlichen Tag verbringen, um zu verstehen, warum sein Leben vaterlos verlaufen war, warum David sich nie gemeldet hatte. Auch wenn Ryan mehrmals klargestellt hatte, dass er keine neugeborene Vater-Sohn-Beziehung wollte, war ich mir sicher, dass der Junge, der vor drei Jahren seine Mutter verloren hatte, darauf hoffte, hier etwas zu finden, was einer Familie ähnelte.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now