24. Kapitel - Vergiss uns nicht

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Kennt ihr das, wenn eure Vorstellungen von der Zukunft so komplett anders sind, als sie in Wirklichkeit ist?

Milliarden Gedanken jagten mir durch den Kopf, ohne dass ich sie wirklich hören konnte, während ich lächelnd Callistos Hand schüttelte.

Er sah nett aus. Seine Wangen waren noch kindlich, obwohl er deutlich älter war als wir. Seine großen Augen wirkten müde, aber freundlich und sein Händedruck war fest.

„Wir hatten gestern gar nicht das Vergnügen, uns kennenzulernen", bemerkte er und meine Mundwinkel zuckten.

„Ich bin Aleyna", stellte ich mich vor und ließ seine Hand los.

„Freut mich dich kennenzulernen, Aleyna. Ich bin Callisto." Sein Lächeln reichte beinahe bis zu den tiefen Grübchen in seinen Wangen. Vermutlich hatten wir beide bereits gewusst, wie wir hießen, aber es etwas Anderes ihn seinen Namen sagen zu hören. Dadurch realisierte ich, dass die Pläne, über die wir gestern gesprochen hatten, der Wahrheit entsprachen.

„Wir sollten los", erhob Ryan das Wort und ich blickte zu ihm.

„Da hast du recht", stimmte Callisto ihm zu. „Verabschiedet euch und dann ab die Post."

Mein Blick glitt zu Oma, die gerade die letzte Tasche aus dem Wagen holte und neben die anderen stellte. Bei Callistos Worten hielt sie inne, schaute zu Malek und mir. Sie hatte Angst. Wenn wir weg sein würden, hatte sie Zeit, um nachzudenken und sie war auf der Flucht vor ihren Gedanken, genauso wie ich vor meinen Gefühlen.

Ich schloss den Abstand zwischen uns und zog sie eng in die Arme, bevor ich meine Augen schloss.

„Versprich mir, dass du auf dich aufpasst, okay?", wisperte ich an ihrem Ohr und spürte, wie sie eilig nickte. Hilflos zog ich die Augenbrauen zusammen und hielt die Augen geschlossen, als sie sich mit Tränen füllten. „Und vergiss uns nicht."

Dann ließ ich sie los. Ohne Aufwiedersehen zu sagen.

Mir war klar, dass ich es irgendwann bereuen würde, mich nicht umgedreht zu haben, aber ich war zu schwach, um zu weinen. Ich wusste, dass ich zusammenbrechen würde, wenn ich ihr nochmal in die Augen sah, denn ihr war bewusst, dass wir so schnell nicht wiederkommen würden.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir irgendwann wieder zurückkehren würden, war gering, denn wir hatten hier weder einen Platz, noch besaßen wir genug Geld.

Also griff ich nach meinem Rucksack und blickte nicht zurück. Ich ließ sie alleine.

Tarek und Malek waren bereits mit Aadil hinter den großen Weinkästen verschwunden. Also war ich die Letzte von uns, die in die Dunkelheit des Kleintransporters trat.

Schweigend beobachteten wir Ryan und Callisto, die die restlichen Weinkästen in unser Sichtfeld schoben und festschnallten, bis auch die Türen ins Schloss fielen und wir nichts mehr erkennen konnten.


***
In den ersten Stunden hörte ich nur das Kreischen von Aadil und spürte das heftige Poltern unter uns. Mein kleiner Bruder hatte bereits früher Angst vor der Dunkelheit gehabt.

Ich beobachtete die schwarzen Umrisse von Tarek und Malek, die neben mir saßen, als plötzlich eine Klappe über uns aufgeschoben wurde und das wenige Licht reichte, um Aadil zu beruhigen.

„Gleich ist die erste Kontrolle. Wenn wir die überstanden haben, sind wir sozusagen in Italien. Ist soweit alles gut bei euch?" Ryans Stimme übertönte den Lärm der Straße und der Autos, die an uns vorbeirasten.

Ich nickte, obwohl mir klar war, dass er es nicht sehen konnte.

„Ich muss mal pinkeln", antwortete Malek nach ein paar stillen Sekunden und ein schwaches Lächeln legte sich auf meine Lippen.

„Oh okay, verdammt." Wir hörten ein Rascheln auf der anderen Seite der Wand, vor der wir saßen. „Ich gebe dir jetzt eine Dose und du gibst sie mir wieder, wenn du fertig bist. Falls wir es soweit geschafft haben, ist alles prima. Deine einzige Aufgabe ist, dich zu konzentrieren und sehr gut zu zielen."

Vermutlich wussten wir alle drei, dass Ryan durch seine leichten Worte die Stimmung heben wollte. Das Licht flackerte kurz, ehe ich die Umrisse einer Dose erkennen konnte. Mit wackelnden Beinen stand ich auf, stützte mich an der Wand ab und griff nach der Dose. Für einen kurzen Moment konnte ich Ryan in die Augen sehen. „Danke."

Er nickte lächelnd, ehe ich den Blick abwandte und an der Wand hinunterglitt. Erneut fragte ich mich, warum Ryan so gerne half. Auf diese Frage kannte ich bis heute keine Antwort. Die Klappe knallte zu und die Schatten, die über die gegenüberliegende Wand tanzten, verschwanden wieder.

Schließlich hatte die Dunkelheit keine.

***

„Wieso tust du das alles für uns? Jemand wie du hilft nicht einfach so Wildfremden." Unsere Blicke begegneten sich und an seinem schiefen Grinsen erkannte ich, dass er wusste, wie verwirrt ich war. Ryan kannte uns nicht. Es gab keinen Grund für seine Hilfe.

„So jemand wie ich?", wiederholte er und hob fragend die Augenbrauen.

Ich zuckte mit den Schultern. „So jemand wie du."

Ein Lächeln entstand auf seinem Gesicht und er legte den Kopf schief. „Und wer bin ich?"

Ich schwieg, weil ich wusste, dass ich auf seine Frage keine Antwort hatte, denn nicht nur er kannte uns nicht. Wir kannten ihn auch nicht.

„Urteile nicht zu früh über Menschen, die du nicht kennst."

Er hatte Recht. Wir kannten ihn nicht. 

Seine Worte erinnerte mich daran, dass Vorurteile vielleicht ein unumgänglicher Wesenszug unserer Gesellschaft waren, letztendlich aber gar nichts über uns aussagten.

***

„In ein paar Minuten fahren wir durch den Eurotunnel." Ryans Stimme drang durch die Klappe zu uns, während ich erschrocken die Augen öffnete und zu Malek sah, dessen Blick bereits auf mir lag. Auch durch die Dunkelheit konnte ich erkennen, dass er lächelte.

Seit drei Tagen saßen wir in diesem Kleintransporter und freuten uns über das wenige Licht, das Schatten auf die Wände warf. Ein müdes Lächeln legte sich auf meine Lippen, ehe sich meine Augen von alleine wieder schlossen.

Gerade als ich dabei war wieder einzuschlafen, knallte etwas gegen den Wagen und Schreie drangen zu uns durch.

Irritiert öffnete ich die Augen und sah mich panisch um. „Was war das?", hörte ich Tareks Stimme, die jedoch unter den lauten Geräuschen von draußen übertönt wurde.

Lasst uns rein!" Schrie jemand auf türkisch und der Kleintransporter bremste abrupt, sodass uns die plötzliche Kraft eng an die Wand drückte.

„Was zur Hölle..."

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now