4. Kapitel - Plötzlich

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„Aleyna." Bei Maleks lächelnden Worten blickte ich von Aadil auf. „Siehst du das?" Er nickte vor sich und ich folgte seinem Blick. Gefühle, die ich seit vierunddreißig Tagen nicht mehr gespürt hatte, fegten durch meinen Körper und ließen mich schneller werden.

Der Wald, durch den wir liefen, endete plötzlich in einem steilen Abhang und zwang uns zum Stehen. Vor uns erstreckte sich die Hafenstadt, die uns Ryan beschrieben hatte. Sie leuchtete in bunten Lichtern, während die Menschen, die wie kleine Ameisen durch die schmalen Straßen eilten, diesen Ort von hier oben auf eine seltsame Weise tröstlich wirken ließen.

„Wie lange, meinst du, brauchen wir noch?" Malek sah fragend zu mir hinunter, während ich den Blick nicht abwenden konnte. Monate war es her, seitdem ich das letzte Mal so eine große Stadt gesehen hatte. Sie war voller Menschen und strotzte nur so vor Lebendigkeit.

„Vielleicht drei, maximal vier Kilometer?" Ich begegnete seinem lächelnden Blick, als er den Abstand zwischen uns schloss und mich eng an sich zog. Die Vorfreude rieselte in diesem Moment wie das warme Sonnenlicht von morgen auf uns nieder. Ich schloss lächelnd die Augen, während ich den Kopf an Maleks Brust lehnte und Aadil seine Arme um meinen Hals schlang. Wir hielten uns fest und es fühlte sich so an, als könnten wir nach langer Zeit endlich wieder aufatmen.

Ein ohrenbetäubendes Geräusch hallte durch den dichten Wald.

Ein Schuss.

Plötzlich stöhnte Malek in meinen Armen auf und mein Herz blieb stehen, als ich spürte, wie er erschlaffte und sich sein Körper spürbar anspannte.

Er sackte in meiner Umarmung zusammen und ich stöhnte unter dem plötzlichen Gewicht auf, während wir langsam zu Boden glitten. Meine Hände und Blicke tasteten suchend über seinen Körper und mein Herz hörte auf zu schlagen, als ich den dunklen Fleck auf seinem Oberschenkel entdeckte. Das tiefe Rot seines Blutes sog sich durch die Fasern seiner Hose, bevor ich aufgelöst zu seinem aschfahlen Gesicht sah und sich die Angst wie Eiszapfen in meine Brust bohrte.

Aadil weinte in meinen Armen und meine Hände berührten zitternd Maleks Bein.

Seine Schreie mischten sich unter die meines Herzens und klirrten laut in meinen Ohren. Mein Brustkorb bewegte sich so schnell, dass meine Lungen verwirrt aufkreischten, weil der Sauerstoff nicht mehr bei ihnen ankam.

„Aleyna", presste Malek zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und krallte sich in meine Arme. Mein Name und seine Stimme brannten sich in meine Gedanken, bevor die Panik in mir Feuer fing.

„Haut ab, ihr habt hier nichts zu suchen!" Die alte Stimme eines Mannes drang zu mir durch und ich erkannte, dass sie nicht weit von uns entfernt war.

Nachdem ich Maleks Kopf mit bebenden Händen auf dem Boden abgelegt und Aadil neben mir abgesetzt hatte, tastete ich über seinen Körper, wie ich es gelernt hatte.

Gedanken trampelten panisch durch meinen Kopf. Ich musste versuchen, die Blutung zu stoppen. Mit einer schnellen Bewegung hob ich sein Bein an und überprüfte, ob es auch eine Austrittswunde gab. Als ich nichts spürte, löste ich den löchrigen Hijab von meinem Kopf und wickelte ihn oberhalb der Wunde zweimal um seinen Oberschenkel.

Erinnerungsfetzen flackerten vor mir auf, als ich plötzlich Ryans Stimme an meinem Ohr hörte.

„Also, was würdest du jetzt tun?" Er blickte mit erhobenen Augenbrauen zu mir hinauf. Ryan lag vor mir auf dem Boden und nickte erwartungsvoll auf seinen Arm. Langsam schüttelte ich den Kopf. „Du bist aber nicht angeschossen", bemerkte ich dumpf und er lachte leise, ehe er die Augen schloss. „Dann stell's dir vor."

Seine schwarzen Wimpern lagen wie Schatten unter seinen Augen. Als ich merkte, dass er nicht vorhatte, sie in absehbarer Zeit wieder zu öffnen, ließ ich mich seufzend vor ihm auf die Knie fallen und starrte ihn an. Diese Situation kam mir lächerlich vor. „Nicht jede Schusswunde blutet, aber gehen wir mal davon aus, dass es diese tut. Was würdest du machen?" Seine Stimme war ruhig und ich unterdrückte den Drang, ein weiteres Mal zu erwähnen, dass er überhaupt keine Schusswunde hatte.

„Drauf drücken?", kalkulierte ich, woraufhin Ryan ein Auge öffnete und meinem Blick begegnete. „Später", erwiderte er. Ich musterte seinen Arm. Was würde ich tun, wenn er wirklich angeschossen wäre?

„Die Blutung stoppen?", versuchte ich es erneut und er schnalzte anerkennend mit der Zunge, bevor er mich angrinste. „So langsam kommen wir dem Ganzen schon näher." Er öffnete beide Augen. „Wie würdest du die Blutung stoppen?"

Ich presste die Lippen aufeinander, weil ich mir sicher war, dass meine Antwort falsch sein würde. „Drauf drücken?"

Er lachte leise, bevor er sich schwungvoll vom Boden abstieß und vor mir in die Hocke ging. „Denk weiter. Du kannst nicht die ganze Zeit auf die Wunde drücken, bis sie aufhört zu bluten." Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Wenn Blut schnell und stoßweise herausströmt, wurde eine Arterie getroffen. Heißt, für einen Druckverband ist es zu früh." Meine Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe, aber er fuhr fort. „Als erstes konzentrierst du dich darauf, die Blutung zu stoppen. Dafür ist ein Tourniquet am praktischsten, fürs erste reicht aber auch ein langes Stück Stoff." Sein Gesichtsausdruck war ernst geworden. „Du wickelst den Stofffetzen ungefähr fünf Zentimeter über der Wunde um den Arm und spannst es so lange, bis die Blutung gestoppt ist." Er erhob sich langsam und hielt mir die Hand hin. „Nach mehr als fünfzehn Minuten musst du ihn wieder abmachen, sonst könnt's ungemütlich werden."

Entschlossen zog ich das Tuch, dass ich um Maleks Bein gewickelt hatte, fest und presste die Augen zusammen, als Maleks Schreie laut in meinen Ohren klirrten. Während ich den kaputten Hijab zu einem Knoten band, versuchte ich das starke Zittern meiner Hände zu ignorieren und konzentrierte mich stattdessen auf Ryans Worte, die hilflos durch meinen Kopf irrten.

Ich hob den Blick und entdeckte einen älteren Mann, der das Gewehr in seinen Armen immer noch auf uns gerichtet hielt. „Dreckige Parasiten haben hier nichts zu suchen! Geht dahin zurück, wo ihr hergekommen seid!" Seine lauten Worte hallten durch den Wald, während er eilig den Abstand zwischen uns schloss.

„Du musst jetzt versuchen aufzustehen, okay?" Ich versuchte ruhig zu klingen, während mein Herz panisch auf meinen Brustkorb einschlug. Meine Hand legte sich für einen Moment um sein Gesicht. Sein Atem ging ungleichmäßig, aber sein Blick war immer noch auf mich gerichtet.

Stöhnend stemmte er seine Ellenbogen in den harten Boden. „Das machst du gut!" Ich fasste ihm unter die Schultern und zog ihn hoch.

„Aadil, komm her!" Ich versuchte Malek zu stützen, indem ich seinen rechten Arm um meine Schultern legte, bevor ich mich leicht zu Aadil hinunterbeugte und ihn hochhob. Als ich überzeugt davon war, dass er sicher auf meiner Hüfte saß, lief ich los.

Wir stolperten den sandigen Abhang hinunter, ehe wir auf die Stadt zueilten, deren Lebendigkeit auf einmal von einem grauen Nebel überschattet wurde.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now