23. Kapitel - Trostlos

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Nachdem Ryan und ich zurück nach unten gegangen waren, hatten die Anderen den Tisch bereits abgedeckt und schienen mit dem Packen begonnen zu haben. Unsere Rucksäcke standen aneinandergereiht vor der Theke, auf die Oma volle Wasserflaschen und Tüten mit haltbarem Essen stellte.

„Wie geht es dir?", fragte meine Großmutter mich besorgt, als sie mich entdeckte und ich ging auf sie zu. „Mir geht es gut", beruhigte ich sie und zwang mich zu einem Lächeln. „Kann ich dir helfen?", wechselte ich das Thema, aber es schien sie nicht zu stören.

Ryan beugte sich zu den Taschen und fing an, die Dinge, die auf der Theke standen, hineinzupacken. Ich beugte mich etwas vor und reichte ihm die Wasserflaschen, woraufhin seine Mundwinkel leicht zuckten.

„Ich würde euch am liebsten alles mitgeben, aber es ist am schlausten, wenn ihr nur das Nötigste mitnehmt", erklärte Oma und ich nickte. Sie hatte recht. Es würde nicht lange brauchen, bis wir alles eingepackt hatten, denn wir besaßen nicht viel.

„Ihr könnt gerne duschen gehen, bevor ihr euch hinlegt", bot sie uns an und ich lächelte dankbar.

„Danke."

***

Als ich zu Malek nach oben ging, war es draußen bereits stockdunkel, sodass ich die Lichter anmachte, um nicht irgendwo gegen zu laufen.

Malek lag bereits auf dem Bett und hielt Aadil in den Armen. Tarek schlief, wie in der letzten Nacht, auf der Matratze, die auf dem Boden lag, während ich leise zu meinem Bruder schlich und neben ihm unter die Decke kroch.

Ryan hatte gesagt, er würde nachkommen, jedoch befürchtete ich, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er alles organisiert hatte.

Obwohl ich schon einige Stunden geschlafen hatte, spürte ich die Müdigkeit, die sich zurück in mein Bewusstsein drängte. „Gute Nacht", hörte ich Malek sagen und ich lächelte wieder. „Schlaf gut, Malek."

***

In allen wachen Nächten sehnte ich mich danach, dass meine Gedanken einmal vor mir einschlafen würden, aber sie wurden nur lauter.

Ich lag neben Malek auf dem Bett und hörte sie schreien, während ich in die Schwärze meiner geschlossenen Lider blickte. Wenige Stunden hatte ich zur Ruhe kommen können, aber nun war ich wach. Ich widerstand dem Drang, mich zu bewegen, da ich meinen Bruder nicht wecken wollte, dessen Schlaf genauso leicht geworden war wie meiner.

Ich überlegte, wie der nächste Tag ablaufen würde. Ging die Situationen durch, die schiefgehen könnten, bis mich plötzlich eine Hand an der Schulter berührte. Erschrocken setzte ich mich auf und sah mich in dem dunklen Raum um.

Ryan hatte sich neben das Bett gehockt und blickte mir mit einem schiefen Lächeln entgegen. „Hey", wisperte er. Ich starrte ihn als Antwort an.

„Hi", presste ich hervor und räusperte mich, als ich merkte, dass meine Stimme noch rau vom Schlafen war.

„Tut mir leid, falls ich dich erschrocken habe, aber wir müssen in zwanzig Minuten los", erklärte er leise und sofort fuhr ich hoch.

„Was?" Mein Herz klopfte aufgebracht gegen meinen Brustkorb. Ich war noch nicht bereit zu gehen.

„Du solltest dich fertig machen", flüsterte er und richtete sich wieder auf. „Es ist alles fertig. Du musst dich nur noch fertig zu machen und Malek wecken."

Ich stieg aus dem Bett, während Ryan bereits wieder die Tür erreicht hatte und das flackernde Licht im Flur auf sein Gesicht fiel.

„Wo ist Tarek?", fragte ich, als ich zum Lichtschalter ging.

„Er ist unten und redet mit deiner Großmutter."

Ich nickte, während ich seinem Blick begegnete, der warme Spuren auf meiner Haut hinterließ. „Glaubst du es wird besser?" Ich beobachtete ihn, um zu sehen, wie er reagierte. „In England", fügte ich hinzu, als ich merkte, dass er nicht wusste, was ich meinte.

Seine Augen zuckten suchend über mein Gesicht, während ich spürte, wie sich meine Nägel wieder in meine Hand bohrten.

„Ja, das glaube ich." Ryan machte einen Schritt auf mich zu und ich hielt den Atem an, als seine Hand plötzlich meine streifte. Sanft öffnete er meine Finger, die sich zur Faust geballt hatten und ich schluckte nervös. „Du musst damit aufhören", flüsterte er und ich nickte leicht. „Und du solltest dich fertigmachen."

Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, bevor er meine Hand losließ und wieder zurücktrat.

Erst jetzt erkannte ich, dass er das T-Shirt trug, das Oma für ihn ausgesucht hatte. Es passte zu ihm. „Bis gleich", verabschiedete er sich und lief zur Treppe, während ich ihm nachsah.

Als er verschwunden war, ging ich zurück zu Malek, um ihn zu wecken und mich fertig zu machen. Wir hatten nur noch wenige Minuten.

***

Der Motor brüllte unter uns und Aadil schrie in meinen Armen, während Malek an meiner Schulter lehnte und die vorbeirauschenden Bäume hinter der Fensterscheibe beobachtete.

„Wann sind wir da?", fragte Tarek ein weiteres Mal. Er hielt es kaum aus, ruhig auf seinem Platz sitzen zu bleiben.

„Siehst du das kleine Wäldchen dort?", entgegnete Ryan, der neben meiner Großmutter auf dem Beifahrerplatz saß und wir folgten seinem Blick.

„Wartet er da auf uns?" Tareks Stimme zitterte, brach beinahe in sich zusammen.

„Ja", sagte Ryan, sah aber nicht auf.

„Bist du sicher, dass er da sein wird? Vielleicht verarscht er uns", hakte Tarek weiter nach und ich ließ die Schläfe vorsichtig gegen die Fensterscheibe sinken.

„Er wird da sein, Tarek", wiederholte Ryan ruhig und ich konnte hören, dass ihn Tareks Unsicherheit stresste.

Ich schloss die Augen und versuchte die letzten Minuten zu genießen, in denen wir nicht auf der Flucht waren, aber wenn ich ehrlich war, hatten wir nie richtig damit aufgehört.

Nur der Schmerz, den der Verlust meiner Eltern in mir ausgelöst hatte, war neu dazugekommen. Er zog mich hinunter wie nasse Kleider. Er schien alles schwerer zu machen.

Auf dem Weg zu Oma hatte ich sie in meinen Träumen manchmal reden hören und versucht, mir ihre Stimmen zu merken, aber an jedem Morgen hatte es sich so angefühlt, als würde ich nur dem Vermissen lauschen.

Meine Gedanken überfielen die Schatten auf meiner Seele.

Vielleicht leben sie noch.

Ich spürte, wie eine warme Flüssigkeit über meine Hand lief und zu Boden tropfte, ehe ich erschrocken die Augen öffnete, um zu sehen, was es war.

Blut.

Meine Nägel hatten sich so tief in meine Handfläche gebohrt, dass es angefangen hatte zu bluten.

„Da ist er!" Bei der Stimme meiner Großmutter fuhr ich ängstlich zusammen und verdeckte automatisch meine verletzte Hand. Sie sollten nicht sehen, dass ich mich selbst verletzt hatte, ohne es zu merken. Es war mir unangenehm.

Ich blickte aus dem schmalen Fenster und entdeckte einen kleinen Transporter, am Rande der Straße.

Wir waren da.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now