53. Kapitel - Farbenfroh

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Malek behielt recht. Im großen Ganzen verliefen die Tage ereignislos und fade, aber auch ich behielt recht, denn es gefiel mir. Es tat gut.

Ich saß die meiste Zeit im Schneidersitz neben meinen schlafenden Brüdern auf meiner Matratze und kritzelte wieder Worte in mein Notizheft. Stunden vergingen, in denen ich mich schweigend in meinen Texten wog und Gedanken aufschrieb, die sich in mir angesammelt hatten wie Stauwasser.

Auch als ich am Mittwoch wieder in der Großküche stand, blieben meine Gedanken bei Malek. 

„Wo warst du die letzten zwei Tage?", erklang plötzlich eine Stimme, während sich zwei kräftige Arme vor mir auf der Theke abstützten.

Ich hob langsam den Blick und sah in Elvis graue Augen. „Mir ging's nicht gut", antwortete ich mit fester Stimme, bevor ich mich wieder auf die Kartoffel in meinen Händen konzentrierte. Mit der Zeit hatte ich gelernt, wie man mit Elvis umging. Man passte sich an.

Diese unausgesprochene Regel galt jedoch nicht nur für Elvis. Sie galt für die meisten Menschen in meinem Umfeld. 

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er die Stirn runzelte, als wäre ihm meine Antwort zu simpel. „So schlecht, dass du nicht zur Arbeit kommen konntest?", hakte er nach und ich hielt in meiner Bewegung inne, bevor ich fragend zu ihm aufblickte und den Kopf schief legte. „Ist das ein Problem?"

Er zuckte apathisch mit den Schultern und richtete sich wieder auf. „Wenn das eine Ausnahme bleibt, nein." Er lächelte mich an, ehe er sich von mir abwandte und seinen Weg fortsetzte.

Ich bemerkte Dianas Blicke, die mich darum baten, zu ihr zu sehen. Sie war zwei Reihen hinter mir auf der anderen Seite und streckte mir den Daumen entgegen. Ich erwiderte ihr Lächeln, ehe ich mit meiner Arbeit fortfuhr. Diana war zu den wenigen Menschen geworden, mit denen ich mich hier unterhielt und die mir ans Herz gewachsen waren.

Auch heute gab es nur eine Pause, in der wir Reste aßen und uns unterhielten, bevor wir weitermachten, bis Elvis Rufe, dass wir bald fertig wären, durch den Raum dröhnten. Seltsamer Weise machte mir die Arbeit Spaß, je länger ich mit den Menschen Zeit verbrachte.

Als unsere Schicht zu Ende war, ging ich gemeinsam mit Diana durch den kleinen Vorraum, in dem ein einsamer Mülleimer voller Plastikhandschuhen und ein Tisch mit Kästen stand.

„Hast du heute noch was vor?", fragte sie, während ich meine Handschuhe in den Mülleimer schmiss und die Werkzeuge in die Kästen sortierte. Ich schaute kurz zu ihr. „Mich um meine Brüder kümmern, denke ich." Sie lachte. Sie hatte ein schönes Lachen. Das war mir bereits aufgefallen, als ich es zum ersten Mal gehört hatte.

„Ich wollt noch irgendwo was trinken gehen, willst du nicht mitkommen?" Mit einem Klirren ließ auch sie ihr Zeug in die Kästen fallen und öffnete die Tür zu dem Gang, der nach draußen führte. „Heute ist schlecht", lehnte ich ab.

Sie nickte langsam und schien es dabei zu belassen. „Wie heißen deine Brüder?", wechselte sie das Thema und ein Lächeln legte sich auf meine Lippen. Die plötzlichen Themenwechsel waren mit der Zeit zu ihrem Markenzeichen geworden. Immer wieder hatte sie in stillen Sekunden über etwas nachgedacht und es sofort mit jemandem teilen müssen. Das war eines der Dinge, die ich an ihr mochte. Ich wäre gerne so offen wie sie.

Ich glaube, das Leben würde um einiges einfacher sein.

„Malek und Aadil", antwortete ich und sie drehte sich in meine Richtung, um mich ansehen zu können. „Ich habe mir immer einen großen Bruder gewünscht, aber nur kleine Schwestern bekommen. Nervige, kleine Gören." Ich musste grinsen, als ich an ihrem Tonfall erkannte, dass ihre Worte nicht ernstgemeint waren. Sie liebte ihre Schwestern so, wie es die meisten Geschwister taten.

Genau wie ich.

***

Der einsame Weg zurück zur Lagerhalle half mir dabei, mich zu sammeln und Ruhe zu finden. Ich genoss die dunkle Stille und das Geräusch der Kieselsteine unter meinen Schritten, die mich daran erinnerten, dass es weiterging.

Muma hatte mir einmal gesagt, dass es kein Ende geben würde, weil wir nie all die Dinge aussprechen könnten, die uns auf der Seele lagen. Wir würden nie genug gesehen und gefühlt haben, um Abschied zu nehmen. Wir würden nie sagen können, dass wir jetzt bereit waren.

So war es auch bei meiner Schwester gewesen. Ich hatte gewusst, dass sie sterben würde und dennoch hätte es keinen Augenblick gegeben, in dem ich dazu bereit gewesen wäre, es enden zu lassen. In dem ich sie hätte loslassen können. Ich hatte das Gefühl, dass ich ihr noch so viel mehr hätte sagen müssen, dass ich ihr länger hätte zuhören sollen.

Da waren zu viele unausgesprochene Worte, ungetane Dinge und nicht gefühlte Emotionen.

Aber ich glaube, dieses Gefühl ist normal.

Unsere Leben waren endlich. Sich darüber bewusst zu werden, dass das Leben ein unvollendetes Zu-Ende-gehen war, benötigte Zeit, aber irgendwann half es uns dabei, die Dinge anders zu sehen und sie mehr wertzuschätzen.

Als Oma gesagt hatte, dass Muma und Papa tot waren, war die Bedeutung ihrer Worte so groß gewesen, dass ich sie von mir gestoßen hatte. Seit dem Vorfall mit Malek war jedoch der Schlüssel zu den Kammern meiner Verletzlichkeit verloren gegangen. Sie waren aufgebrochen. Aber die Trauer überrumpelte mich nicht, wie ich es vermutet hatte.

Sie kam in Schüben und an manchen Tagen fand ich sie beinahe schön, denn sie zwang mich dazu, mich an sie zu erinnern. An ihr Lachen, an ihre Gesichter, an ihre Worte. An all das, was nicht mehr da war. Jeder meiner Tage war ein ständiges Andenken an sie.

Aber die Traurigkeit lähmte mich nicht, sie formte nur neu, was nicht mehr passte. Die Angst davor, auch das zu verlieren, was noch geblieben war, würde zwar nicht ganz verschwinden können, aber ich würde aufhören, sie als Feind zu sehen, denn ich war sie. Ich war all das, wovor ich Angst hatte. Wir bestanden nicht nur aus unabdingbarer Zufriedenheit und andauernder Stärke, da waren auch Ängste und Schwächen, die uns ausmachten. Sie lehrten uns Achtsamkeit in guten Zeiten.

Als ich bei Malek ankam, legte sich ein Lächeln auf meine Lippen, denn er war nicht allein. Stelios saß neben ihm und hatte eine Hand an seine Wange gelegt. Mittlerweile war ich mir fast sicher, dass da zwischen ihnen mehr als nur Freundschaft war.

„Hey", begrüßte ich sie und Stelios zuckte erschrocken zusammen, da er mit dem Rücken zu mir gesessen hatte. Als er sich zu mir umdrehte, erkannte ich, dass er errötete. „Hi", erwiderten die beiden und mein Brustkorb füllte sich mit Wärme. Malek sah glücklich aus. Als wäre er dabei, ein zu Hause zu finden.

„Wie geht's dir?", fragte ich ihn und zog eine Wasserflasche aus meiner Tasche.

„Deutlich besser." Während er mit mir sprach, lag sein Blick nicht auf mir, sondern auf Stelios. Meine Mundwinkel zuckten erneut.

„Meinst du, du könntest am Freitag mal mitkommen?" Ich hatte oft darüber nachgedacht, wie Malek heilen konnte, ohne das Leben zu vergessen. Als er gestern aufgestanden war, hatte er nur ein wenig gewankt. Vielleicht könnte er mich also begleiten und mal etwas Anderes sehen. Seit Wochen hatte er nicht mehr als die Umgebung der Lagerhalle sehen dürfen. Wir mussten immer noch vorsichtig sein, aber wir waren hierher gekommen, um neu anzufangen und nicht, um zu verharren und das gleiche zu machen, das wir bereits vorher getan hatten. 

Angst haben. 

„Du meinst ins Restaurant?" Seine Augen glitten zu mir, während seine Augenbrauen fragend in die Höhe wanderten und ich als Antwort nickte. „Ja. Du musst nicht, aber ich dachte, dass", erklärte ich, aber er unterbrach mich, indem er den Zeigefinger an seine Lippen legte und mich so zum Schweigen brachte. „Danke." Malek lächelte.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt