27. Kapitel - Verweht

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Wir folgten Saki in den hinteren Bereich der Lagerhalle, bis sie vor vier Matratzen stehenblieb. Löchrige Spannbettlaken verbargen das wahre Alter der Matratzen. Als ich daran dachte, endlich wieder auf weichem Boden schlafen zu können, legte sich ein Lächeln auf meine Lippen und ein warmes Gefühl flutete meinen Körper.

„Ich denke mal, ihr seid sehr müde." Sie deutete hinter sich, in die Richtung der gegenüberliegenden Wand, die mit Macken übersät war. „Falls ihr also was brauchen solltet, ich bin da hinten." 

„Danke Saki." Bei meinen Worten glitt ihr Blick zu mir und sie lächelte.

„Wir suchen alle etwas. Und sei es nur ein kleiner Platz, um zu schlafen."

Ich lächelte. Sie wusste nicht, wie recht sie damit hatte.
***

„Was meintest du eben mit den Jobs?" Tarek sah fragend zu Ryan. Die beiden war die einzigen von uns, die noch immer standen. Malek und ich hatten uns mit Aadil sofort auf die Matratzen gesetzt. 

„Während der Fahrt hatte ich genug Zeit, um mich schlau zu machen", erklärte Ryan und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand der Lagerhalle. Unser Platz lag direkt an der Wand. „Ich habe für dich einen Job auf einer Großbaustelle gefunden. Vermutlich wirst du dienstags, mittwochs, freitags und samstags arbeiten. Für dich hab ich eine Stelle in einer Großküche und einem Restaurant ausfindig gemacht, Aleyna. Es ist zwar noch nicht sicher, ob ihr diese Jobs überhaupt bekommt, aber ich gehe schwer davon aus." Ryans Blick lag aufmerksam auf Tarek und mir, als könnte er so besser abschätzen, ob er uns mit Informationen überforderte. 

Warum zwei Jobs?

„Malek, du wirst erstmal nicht arbeiten können, da es für uns alle gefährlich werden könnte, wenn du auffällst. Du hast also genug Zeit zu heilen und dich hier zu langweilen." 

Malek streckte ihm den erhobenen Daumen entgegen, ehe er sich rückwärts auf die Matratze fallen ließ.

„Super", kommentierte Ryan und stieß sich schwungvoll von der Wand ab.

„Und wo arbeitest du?", fragte ich und seine Augen fanden meine. „Im Sicherheitsdienst."

Malek lachte heiser, hielt die Augen dabei jedoch geschlossen. „Wo auch sonst?"

Bei den Worten meines großen Bruders stahl sich auch auf meine Lippen ein leichtes Grinsen und Ryan rollte mit den Augen, aber auch seine Mundwinkel zuckten. 

„Ruht euch aus, okay? In der Zeit kläre ich das mit den Jobs. Wir sehen uns spätestens morgen früh", erklärte Ryan und griff nach seinem Rucksack, den er vor die Matratze gelegt hatte, die nun ihm gehörte. 

„Sind die Jobs denn sicher?" Bei meinen leisen Worten zuckte Ryans Blick über mein Gesicht. Es wirkte, als würde er seinem Leben in ständiger Wachsamkeit begegnen. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, wusste ich zwar, dass er nicht viel älter sein konnte als wir, aber dennoch hatte ich das Gefühl gehabt, dass er bereits mehr erlebt hatte als die meisten Menschen. 

Dass er mehr durchgemacht hat.

„Das werde ich jetzt herausfinden."

Ich nickte langsam und strich Aadil, der in meinen Armen lag, beruhigend über den Kopf, als er ein leises Brummen von sich gab. „Weißt du schon, wann ich anfangen würde zu arbeiten?", fragte ich und Ryan schulterte seinen Rucksack.

„Du würdest die Woche über in der Großküche arbeiten und bis auf Sonntag im Restaurant aushelfen."

Mein Herz stolperte erschrocken, als er mir antwortete, aber wenig später breitete sich Vorfreude in mir aus. Zwar würde ich nur einen freien Tag haben, aber die beste Möglichkeit, um mit dem Geschehenen umgehen zu können, war vermutlich, mich zu beschäftigen und abzulenken. 

„Ist das hier in der Nähe oder wie komme ich dahin?", hakte ich weiter nach. Ich war zu neugierig, als dass ich mich hätte zurückhalten können. 

„Ich bringe dich." Ryans Augen waren immer noch auf mich gerichtet, als würde er damit rechnen, dass ich noch mehr Fragen hatte. „Bis du den Weg auswendig kennst", ergänzte er sich und ich nickte, während mein Blick zu Malek wanderte. Er zupfte unruhig an dem Ende seines Ärmels und starrte auf die leere Stelle vor ihm.

Als ein paar Sekunden des Schweigens vergingen, hob Ryan fragend die Augenbrauen und blickte uns an, als würde er sichergehen wollen, dass wir keine Fragen mehr hatten.

„Würde ich morgen schon anfangen?" Ich hatte keine Ahnung, wie so etwas ablief, vermutlich war das der Grund dafür, dass ich so viele Fragen stellte.

„Vielleicht. Wenn du schon morgen früh losmusst, wecke ich dich rechtzeitig, keine Sorge."
Ich nickte ein weiteres Mal und Ryan ging an unserer Matratze vorbei.

„Und wohin gehst du jetzt genau?", erklang Maleks Stimme und Ryan drehte sich noch einmal in seine Richtung um.

„Ich schau mir die Orte an, an denen ihr arbeiten werdet und besorge euch die Jobs."

Tarek runzelte die Stirn und ich sah, dass er sich die selbe Frage stellte, die mich, seit ich Ryan kennengelernt hatte, beschäftigte.

Warum hilft er uns?

„Bis morgen früh?"

Ryan schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, aber ich bezweifle, dass ihr noch wach seid, wenn ich wiederkomme."

Ich zog meine Jacke enger um meinen Oberkörper, als ich spürte, wie die Kälte in meine Kleidung kroch und ließ mich mit dem Rücken neben Malek auf die Matratze fallen. Der Weg hierher und die Aufregung der letzten Tage hatten mich müde gemacht, sodass sich meine Augen von alleine schlossen.

„Soll ich mitkommen?", fragte Tarek nach einer Zeit und wir warteten auf Ryans Antwort, aber stattdessen meldete sich Malek zu Wort.

„Tarek, jetzt leg dich hin und halt die Klappe."

Überrascht öffnete ich die Augen und drehte den Kopf in die Richtung meines Bruders.

„Ruht ihr euch aus. Ich beeile mich", überging Ryan Maleks Bemerkung, während mein Blick immer noch auf ihm lag. Er sah erschöpft aus und auf eine Art und Weise gebrochen, die mich traurig machte.

Wir hatten beinahe alles verloren und uns war nur wenig geblieben. Sich an die guten Dinge zu erinnern, schien immer schwieriger zu werden. 

Unsere Hoffnung war wie eine Kerze im Wind. Je mehr Probleme wir hatten, desto stärker wehte er.

Vermutlich trieb auch Malek der gleiche Gedanke selbst über die wuchtigsten Wellen unseres Lebens. Es geht weiter. Egal wie viel wir verloren oder wie oft wir glaubten, aufgeben zu müssen, weil der Schmerz zu groß war, die Zeit lief weiter. Wir alleine bestimmten, wie wir mit all dem umgingen.

Zumindest war uns das geblieben. Wir konnten selbst entscheiden, was mir mit den Scherben der Dinge, die geblieben waren, anfingen, denn unsere Gedanken konnten uns nicht verloren gehen.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now