1. Kapitel - Große Gedanken

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Es war stockdunkel. Außer dem Knacken der Äste unter meinen Füßen war die Nacht ruhig. Als wären wir alleine. Als wären wir die Einzigen, die in dieser schwülen Nacht die Flucht ergriffen. Aber das waren wir nicht. In jeder Nacht hatte ich auf das schnelle Herzklopfen verzweifelter Menschen gelauscht, die darauf hofften, irgendwo, abseits dieses Landes, eine neue Heimat zu finden. Einen Ort, an dem Frieden herrschte. Nicht der Krieg und die Angst.

Das leise Atmen von Aadil beruhigte meine Gedanken. Seelenruhig schlief er in meinen Armen, während sich ein Lächeln auf meine Lippen legte.

Er war da. Und ich würde uns hier rausbringen.

„Aleyna." Ich drehte mich nicht zu Malek um. Er wusste, dass wir nicht stehenbleiben durften. Wir mussten weiter.

„Lass uns morgen weitergehen." Als die Schritte meines großen Bruders plötzlich verstummten, hielt ich abrupt inne. „Morgenfrüh fährt unser Boot." Meine Stimme war gesenkt, während ich mich zu ihm umdrehte.

„Wir sind nur noch ein paar Kilometer entfernt. Wenn wir Morgen früh losgehen, schaffen wir es auch noch rechtzeitig. Versprochen." Das tat er oft. Er versprach Dinge, die er nicht halten konnte und die nicht sicher waren.

Ich nickte. „Okay." Für einen kurzen Moment betrachtete ich seine schwarze Silhouette. Er sah müde aus. Erschöpft. So wie ich. Mein Blick glitt zu meinem kleinen Bruder, den ich schützend in meinen Armen hielt. Wir waren auf der Flucht vor dem Krieg, vor der Angst und liefen mit klopfendem Herzen durch die Wälder Syriens. In ständiger Wachsamkeit.
Jedes Mal, wenn der Wind durch die Bäume wirbelte, an den Ästen zog und die Vögel kreischend aus den Wipfeln flohen, zuckte mein Herz zusammen.

Ich atmete ruhig aus, schloss die Augen und konzentrierte mich auf den Geruch der Nachtluft.

Sei dankbar. Sei dankbar für jede Sekunde, in der du atmen kannst.

Wir suchten uns Bäume mit dicken Ästen, bevor wir auf eine gerade gewachsene Eiche kletterten und uns mit dem Rücken zum Stamm niederließen. Aadil gab ein müdes Brummen von sich und ich musste lächeln.

Malek und ich wussten, dass wir nicht lange schlafen würden und dennoch spürte ich, dass wir es ohne diese Pausen nicht so weit geschafft hätten.

Leise schnallte ich den Rucksack von meinen Schultern und öffnete vorsichtig den Reißverschluss. Ich zog ein Seil heraus, das wir mitgenommen hatten, bevor wir aufgebrochen waren und wickelte es sitzend um den Baumstamm, ehe ich es auch um Aadil und mich band. Ich presste ihn fest an mich und schloss die Augen.

Egal wie erschöpft ich war, nie konnte ich einfach einschlafen, wenn sich mir die Chance dazu bot.

Stattdessen kreisten meine Gedanken wie surrende Mücken in meinem Kopf und hielten mich wach. Ich musste an Muma und Papa denken. Wir hatten sie zurückgelassen, um über die Grenze zu kommen.

Aber sie werden nachkommen.

Ich schloss die Augen.

An jedem Tag, an dem wir auf der Flucht waren, zwang ich mich dazu, mich an die guten Dinge zu erinnern.

Dinge, die uns hoffen und weiter gehen ließen.

Ich lauschte Maleks gleichmäßigem Atmen. Er war achtzehn, ein Jahr älter als ich, aber während er schlief, das leichte Mondlicht durch die Baumkronen schien und über sein Gesicht flackerte, sah er plötzlich deutlich jünger aus.

Wenn er schlief, war es als würden sich die dunklen Ringe glätten, die mit jedem weiteren Tag tiefere Spuren unter seinen Augen hinterließen. Die besorgten Furchen auf seiner Stirn verblassten und der angespannte Zug um seinen Mund entspannte sich.

Nach einer Weile zog ich den braunen Stoffbeutel aus meinem Rucksack und öffnete ihn vorsichtig.

Brot, Käse - der bald anfangen würde zu schimmeln - und verschiedene Hülsenfrüchte starrten mir entgegen. Ich riss ein Stück des Brotlaibes ab und kaute lange. Ryan hatte mir, kurz bevor wir aufgebrochen waren, erklärt, dass es wichtig war, lange zu kauen. Die aufspaltenden Enzyme aus meinem Speichel konnten dadurch das Essen besser zerlegen und so konnten wir auch mit wenig Nahrung schnell satt werden.

Ich wickelte alles wieder zusammen, ehe ich den Beutel zurück in den Rucksack legte und stattdessen mein Skizzenbuch herauszog.

Ein warmes Gefühl lief durch meinen Körper und ich lächelte, als ich durch die vollen Seiten blätterte, bis ich eine leere fand.

Ich schrieb, weil ich nicht wusste, wohin mit den Worten, die in meinen Gedanken wucherten wie dichtes Efeu.

Erst als das schwache Mondlicht über das gelbe Papier strich und die schwarzen Schatten der Äste über meine Worte tanzten, bemerkte ich, dass ich weinte.

Die Tränen tropften von meinem Kinn und sogen sich durch die Fasern des leeren Blattes. Es sah aus, als würden sie winzige Wellen hinterlassen.

Ich habe lange nicht mehr geweint.

Ich wusste nicht, woher das kleine Meer kam, das auf die Worte tropfte, die ich auf das Papier kritzelte, aber ich war mir auch gar nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen wollte.

Ich strich mir mit dem Handrücken übers Gesicht, um sie wegzuwischen, aber es hörte nicht auf. Wie Regen tropften sie auf das Blatt. Seufzend ließ ich den Kopf gegen den Baumstamm sinken und schloss die Augen.

Wieso jetzt?

Ich bekam keine Antwort. Also schlug ich das kleine Buch leise zu und stopfte es zurück in den Rucksack, ehe ich die Augen zusammenpresste und wartete, bis meine Hände aufgehört hatten zu zittern.

Ich lauschte dem sanften Rauschen der Blätter, dessen Äste sich knarzend unter dem leichten Atmen des Windes bogen, bis mein Herz wieder ruhiger wurde und die Erschöpfung meine Gedanken überschattete.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now