39. Kapitel - Warum nicht?

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Erst als ich mich von Elif verabschiedet hatte und durch die Hintertür nach draußen trat, bemerkte ich wie stickig es in dem kleinen Restaurant gewesen war. Hier draußen in der engen, feuchten Gasse zwischen zwei alten Häusern starrte ich in den Himmel hinauf und atmete die kalte Abendluft ein. Es war bereits so dunkel, dass die Straßenlaternen am Ende der Gasse die Wege erleuchteten und die Motten leise um das Licht surrten, als würde sie es vor den Ängsten der Nacht schützen.

Meine Schritte waren mit den entfernten Stimmen vor mir das einzige Geräusch, dass sich unter meine Gedanken mischte. Gerade als ich auf den Weg trat und somit direkt neben den Eingang des Restaurants, stach mir eine dunkle Silhouette an der gegenüberliegenden Wand sofort ins Auge. Mein Puls überschlug sich erschrocken, als ich bemerkte, dass diese Gestalt zügig auf mich zulief. Panisch machte ich einen Schritt zurück in die Dunkelheit der Gasse und sah mich suchend um, nicht sicher, wonach ich überhaupt suchte.

Als das Licht der Straßenlaterne auf das Gesicht des jungen Mannes traf, zitterten meine Knie vor Erleichterung und ich atmete erschöpft aus. „Aleyna." Ryans Stimme klang genauso erleichtert, wie ich mich in diesem Moment fühlte. Als er mich plötzlich fest an seine Brust drückte, riss ich überrascht die Augen auf. Wenig später entspannte ich mich jedoch und ließ den Kopf gegen seine Brust sinken.

Ich wusste, dass ich wieder zu spät war und er sich Sorgen gemacht hatte, aber das würde in den nächsten Wochen vermutlich zur Normalität werden, also sparte ich mir eine Entschuldigung.

Ryan und ich gingen zügig den Weg entlang, bis wir nicht mehr auf Stein, sondern auf Erde und Gras liefen. „Was ist los?" Ryans aufmerksamer Blick lag fragend auf mir. Er wusste, dass mich etwas beschäftigte. Dass da irgendetwas war, das meine Gedanken nicht losließ. Ich wusste selbst, dass ich nicht einfach in einem winzigen Restaurant anfangen konnte zu singen. Das ging nicht.

Aber da war auch eine andere kleine Stimme, die mich immer wieder fragte, warum nicht? Warum konnte ich es nicht wenigstens versuchen? Die Wahrscheinlichkeit, dass William mich überhaupt anhörte, wenn ich ihn darum bat, mir zuzuhören, war gering, aber warum nicht?

Ich zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte leicht den Kopf, um diesen kneifenden Gedanken endlich entgehen zu können, als sich Ryan plötzlich vor mich stellte und seine Hände sanft auf meine Schultern legte. „Kannst du mir bitte sagen, was los ist? Sonst mach ich mich nämlich genauso verrückt wie du dich."

Ich lächelte bei seinen Worten. Ich hatte mich die ganze Zeit um meine Probleme gedreht und gar nicht so richtig bei ihm sein können. Das schlechte Gewissen nagte an meinen Gefühlen, während ich in seine dunklen Augen starrte. „Tut mir leid", ich machte eine kurze Pause. „Der Tag gestern und heute war ziemlich viel auf einmal."

Wenn ich damit gerechnet hätte, er würde sich mit dieser Antwort zufriedengeben und still neben mir weitergehen, hatte ich falsch gedacht. Er nahm lediglich die Hände von meinen Schultern und verschränkte sie vor seiner Brust, bevor er tief ausatmete. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass mir das als Antwort reicht, oder?"

Ich hob fragend die Augenbrauen. Ich wusste selbst, dass ich hier nur mit der Wahrheit rauskam, aber dennoch sträubte sich etwas in mir, bei dem Gedanken, ihm davon zu erzählen.

„Aleyna, ich weiß, dass das hier gerade ein großer Schritt ist, aber wann haben wir das letzte Mal einen kleinen gemacht?" Er lächelte und sah mir dabei geradewegs in die Augen. „Also bitte, erzähl mir, was los ist."

Ich musste fast lachen, weil er so hartnäckig darauf bestand, zu wissen, was in mir vorging. Wenn ich ganz ehrlich war, hatte ich schon längst entschieden, es ihm zu erzählen.

Während wir durch den mittlerweile dunklen Abend schritten, dessen Gerüche uns ruhiger werden ließen und meine Stimme mit den leisen Geräuschen der Natur das einzige war, das der Wind zu uns trug, blickte Ryan konzentriert auf den Weg vor uns. Ich erzählte ihm, was mir durch den Kopf ging.

Als ich fertig war, schwiegen wir. Ich wartete auf eine Reaktion, auf einen Ratschlag oder eine Frage, aber er blieb still.

Zumindest bis wir die Lagerhalle bereits sehen konnten.

„Das ist zwar eine Entscheidung, die du ganz alleine treffen musst, aber ich glaube, ich würd's versuchen. Vielleicht lässt William dich auch gar nicht erst vorsingen, aber dann hast du es zumindest versucht. Besser etwas bereuen, das passiert ist, als etwas, das erst gar nicht passieren durfte."

Überrascht hob ich die Augenbrauen und fixierte ihn von der Seite. „Ja?"

Er fuhr sich seufzend durch das dunkle Haar, bevor er vor der Halle stehen blieb.

„Das ist ziemlich riskant und das weißt du, aber andererseits, was soll passieren? Die Leute werden dir zuhören und dich anschauen, aber keiner wird es infrage stellen. Und wenn es dir hilft." Er lächelte. „Dann solltest du es schon deshalb zumindest versuchen."

Ryan war bis jetzt der einzige Mensch, der mit Worten so schön und vorsichtig umging, als seien sie das wertvollste, das er besaß.

Er wartete, bis ich eingetreten war und folgte mir an den Menschen vorbei zu unseren Matratzen. Zu Malek, Aadil und Tarek.

Malek schlief, während Tarek versuchte Aadil zu beschäftigen. Als er uns bemerkte, hob er überrascht die Augenbrauen. „So früh schon da?" Die Ironie, die in seinen Worten lag, entging mir nicht, aber ich war viel zu müde, um auf seine Stichelei einzugehen. Seufzend setzte ich mich auf meine Matratze und griff in meinen Rucksack nach der vollen Wasserflasche.

In großen Zügen kippte ich den Inhalt hinunter und ließ mich anschließend zufrieden auf meine Matratze fallen.

„Wie war dein erster Tag, Tarek?", fragte ich und schloss die Augen, obwohl ich seinen Blick auf mir spürte.

„Gab schon bessere", antwortete er und schien sich ebenfalls auf seine Matratze fallen zu lassen. Als meine Gedanken zu Aadil wanderten, öffnete ich die Augen und fand ihn auf Ryans Armen, der immer noch vor unseren Matratzen stand.

Schweigend beobachtete ich die beiden und beruhigte mich langsam. Ryan lächelte und sah müde aus, während Aadil im ins Gesicht lachte.

Als Ryan aufsah und meinem Blick begegnete, legte sich auch ein Lächeln auf meine Lippen. Wo auch immer er diese immerwährende Stärke und Kraft hernahm, ohne sie wären wir schon längst kaputt gegangen.

Die Welt von hier unten- Man darf uns nicht vergessenWhere stories live. Discover now