Chapter Three

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Eine Woche verging. Jeden Tag besuchte ich das Grab von Liam. Dabei war es egal, wie stark es stürmte oder wie intensiv die Sonne schien. Ich verbrachte Stunden neben ihm und erzählte ihm kleine Geschichten. Manchmal, da beobachtete ich die Menschen um mich herum und musterte ihre Gesichter, die in tiefe Trauer verfallen waren. Die Menschen schluchzten und lagen sich in den Armen.

Es raubte mir die Kraft. Die Kopfschmerzen ließen mich nicht ruhen und Alpträume suchten mich in der Nacht heim. Der Unfall spielte sich in einem endlosen Daumenkino vor meinem inneren Auge ab.

Und dann war es Donnerstag. Der Tag unseres Umzugs. Immer noch fassungslos betrachtete ich die kahlen Wände in unserem Flur. Das leere Bad von Liam und mir. Das Schlimmste jedoch waren die gepackten Kartons, auf denen sein Name stand.

Ich öffnete eine der großen Kisten und blickte auf die Pullover darin. Zitternd nahm ich mir einen zur Hand, schloss den Karton und zog ihn mir über. Der Geruch war noch intensiv. Ich roch Liam. Er roch nicht nach einem Blütentraum, aber auch nicht herb. Es war ein Geruch, den ich nicht beschreiben konnte, jedoch unter Millionen Menschen wieder erkennen würde.

Ich wusste, dass ich dazu nicht mehr lange die Gelegenheit hatte. Ein aller letztes Mal durchquerte ich die einzelnen Räume und blieb in Liams Zimmer stehen. Ich legte mich auf sein Bett und betrachtete die Zimmerdecke. Wie oft war ich in das Zimmer gerannt und war voller Freude auf sein Bett gesprungen, um ihn zu wecken? So oft hatten wir uns in diesem Bett einen Becher Eis geteilt, wenn es in der Nacht zu donnern begann. In diesem Zimmer hatte ich das erste Mal Stunden geweint, als mein damaliger Crush mich abgewiesen hatte. Er hatte mir danach gezeigt, wie mich ein Junge zu behandeln hatte. Er lud mich in ein Kino ein, kaufte mir das größte Menü in einem Drive In und schenkte mir eine kleine Sonnenblume. „So und nicht anders, in Ordnung?" Er schaute mich an und duldete keine Wiederrede.

Dieses Zimmer war voller Erinnerungen und nun doch leer. Nichts erinnerte an Liam und das Leben, welches hier in diesem Zimmer geherrscht hatte. Nur noch die Möbel standen an Ort und Stelle.

Ein letztes Mal, ein letztes Mal, wie es in letzter Zeit oft der Fall war, sah ich mich um, nahm schließlich mein Handgepäck im Erdgeschoss und stieg in das Auto ein. Ich hatte mich von allem verabschiedet, so weit es mir möglich war. Nur von einer Person hatte ich es nicht geschafft. Jacob. Es war etwas anderes, von Gegenständen und einem Verstorbenen Abschied zu nehmen, aber nicht von der Person, die du am nächsten bist. Seit Liam mir Jacob das erste Mal vorgestellt hatte, war er nicht mehr aus meinem Leben zu denken. Er war nicht nur Liams bester Freund, er war für mich ein Bruder. Er hatte mich immer wieder angerufen und mir SMS geschrieben. Doch ich hatte abgeblockt und nun fehlte mir der Mut. Und ich bereute es im selben Moment, zu ignorieren. Das hatte Jacob nicht verdient. Und ich hoffte, er würde es mir verzeihen können.

Am Flughafen herrschte reger Betrieb. Die Leute rannten von der Gepäckaufgabe zum Gate, hetzten zu den Toiletten oder aßen eine Kleinigkeit in einen der Restaurants. Ich hingegen lehnte mich auf meinen Sitz zurück und wartete. Ich hoffte inständig, dass ich es einfach nur überleben würde.

Ich war müde. Die Stewardess fragte mich immer wieder, ob ich denn keine Kleinigkeit essen wollen würde. Solange, bis ich entnervt nachgab und ein trockenes Brötchen aß. Nicht, dass meine Eltern mir eine weitere Therapeutin aufhetzten würden. Es war sowieso schon surreal genug. Sie schickten mich zu einer Therapeutin und zogen mit mir im gleichen Moment in einen anderen Staat. Am Ende von Amerika.

Von dem Flughafen aus, fuhren wir eine weitere Stunde. Ich ignorierte meine Eltern, als sie mir sagten, dass wir es geschafft hatten und angekommen wären. Schön für sie.

Das Haus war groß. Zu groß für drei Personen, von denen zwei kaum zuhause sein würden. Ich musterte die moderne Außenfassade und zog kritisch meine Augenbraue in die Höhe, als ich sah, wie nah unser Haus neben einem anderen stand. Leicht beugte ich meinen Körper nach rechts und betrachtete den Balkon im oberen Stockwerk. Nicht einmal ein halber Meter trennte unseren von den der Nachbarn. Super.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt