Chapter Six

14K 439 96
                                    

Ich beschloss an diesem Abend meine Zeit doch noch mit meinen Eltern zu verbringen. Ich wusste, dass ich dazu bald schon keine Möglichkeit mehr haben würde. Sie würden sich wieder in ihrem eigenen Alltag einfinden und vergessen, dass wir... ich noch hier war.

Und das wurde am nächsten Morgen deutlich. Unser Esstisch in der Küche war nicht gedeckt und auch die Autoschlüssel meiner Eltern fehlten.

Es würde nicht mehr lange dauern und ich würde die Nächte allein verbringen.

Seufzend verließ ich das Haus und betrachtete das schwarze Auto in der Einfahrt unserer Nachbarn. Doch schnell wandte ich den Blick ab, als ich sah, wer hinter dem Steuer saß. Konzentriert starrte Kyle auf sein Handy, wobei einzelne Strähnen seines braunen Haars in sein Gesicht fielen. Seine Fingerkuppen tippten ungeduldig auf dem Lenkrad.

Aber was interessierte es mich? Mit den Kopfhörern in den Ohren, zog ich die Riemen meines Rucksackes enger und lief den Gehweg entlang. Als ich an dem Auto vorbeilief, blickte ich ebenfalls auf mein Handy und versuchte, bestmöglich Kyle zu ignorieren.

Ich war hin und her gerissen. Lisa sagte, ich solle mich von ihm fernhalten und sein ganzer bisheriger Charakter, den er mir gegenüber zeigte, sprach ebenfalls dafür. Genau wie der Gedanke, dass ich es gar nicht erst verdiente, zu träumen. Es war Liam gegenüber nicht gerecht. Denn ihm wurde die Möglichkeit genommen. Und ich hatte nicht mehr verdient, als Liam. Er war der gute in unserer Familie. Der, der alles zusammenhielt.

Und trotz dieser ganzen Argumente, wollte ich mit ihm reden.

Vielleicht auch nur, um einfach jemanden um mich zu haben. Oder aber, weil er einfach zu hübsch für diese Welt war.

„Steig ein." Vor Schreck zuckte ich zusammen und schaute entgeistert zu Kyle hinüber, der sein Fenster heruntergefahren hatte.

Er hatte mich einfach aus meinen Gedanken gerissen. Unfassbar.

„Nein." Eine simple Antwort und ich lief weiter den Gehweg entlang.

Langsam fuhr er neben mir her.

„Steig ein."

„Nein." Ich stellte die Musik lauter und atmete tief durch. Gestern hatte er mir Angst gemacht. Nicht nur durch seinen groben Griff, sondern auch durch die Wut, die er in mir ausgelöst hatte. Ich hatte keine Kraft, mich auf solch ein Gefühl zu konzentrieren. Zumindest wenn es nicht im Verhältnis zu Liam stand.

Kyle überholte mich ein kleines Stück und stieg aus seinem Wagen aus, um sich mich in den Weg zu stellen.
„Wieso?"

Fragte er mich wirklich, wieso ich nicht in das Auto eines fremden, groben – kiffenden – Typen steigen wollte?

„Deinen Hohn und Spott kannst du dir sparen. Darauf bin ich nicht angewiesen."

Ich wollte weiterlaufen, doch egal in welche Richtung ich ausweichen wollte, tat er es mir gleich.

„Ich fahre dich. Wir haben den gleichen Weg. Schon vergessen, ich bin dein neuer, unwiderstehlicher Nachbar." Er wackelte mit den Augenbrauen, während ich meine hochzog.

Kurz schloss ich die Augen, um tief ein und auszuatmen. Dann lächelte ich demonstrativ und hob meine Arme.

„Es ist wunderschönes Wetter. Ich habe nicht das Verlangen, mit dem Auto zu fahren."

Verwirrt sah Kyle mich an und schaute dann in den Himmel. Mein Blick folgte seinem zu den grauen Wolken über uns. Mit meiner Musik würde ich jedoch auch den grau bewölkten Himmel ausweichen. In mir lebte ein kleiner Hippie.

Zurzeit war er nicht anwesend, aber immer mal wieder.

Ich rempelte Kyle absichtlich an und lief an ihm vorbei. Den restlichen Weg zur Schule begegnete er mir nicht mehr. Erst in der Schule erblickte ich ihn in der Raucherecke. Ein blondes Mädchen, Honey hieß sie soweit ich mich erinnerte, lag in seinen Armen und vergrub ihr Gesicht in seiner Halskuhle.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt