Chapter Four

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Liebes Tagebuch,

Es gewittert nun schon seit über einer Stunde und ich bekomme kein Auge zu. Ich bin müde und erschöpft. Ich wünsche mir, einfach nur schlafen zu können. Vielleicht für immer.

Um mich abzulenken, habe ich angefangen auf YouTube ein paar Trailer anzuschauen. Und in einem fiel der Satz, „Kann ein gebrochenes Herz noch lieben?"

Es mag komisch klingen, weil es sich um ein Drama handelte. Aber ich denke, mein Schmerz ist größer, als der einer gescheiterten Beziehung. Liam zu verlieren hat mir mein Herz gebrochen. Aber ich liebe immer noch. Wie könnte ich aufhören, meinen großen Bruder zu lieben? Ich denke bloß, dass der Schmerz uns zu berauben beginnt. Er wird der Mittelpunkt unseres Lebens und beraubt uns all der schönen Dinge. Aber das werde ich nicht zulassen. Ich kann mit diesem Schmerz leben, aber er wird mich nicht überleben. Ich werde an Liam festhalten. Bis zu meinem letzten Tag und dem Tag, an dem ich ihn wieder in meinen Armen halten kann.

Übrigens finde ich dieses „Tagebuchschreiben" immer noch ziemlich surreal. Es ist ein komisches Gefühl, meine Gedanken aus meinem Kopf zu schmeißen und zu wissen, dass sie trotzdem niemand hören wird. Und noch komischer ist es, dass es zu helfen scheint. Ich fühle mich nicht mehr ganz so einsam. Vielleicht kann dieses kleine Buch mir mehr Trost schenken, als ich es angenommen hatte.

Ich muss jetzt versuchen zu schlafen. In wenigen Stunden beginnt ein neuer Tag. Mein erster Schultag an der South High und mein Geburtstag. Ich hatte so lange davon geträumt, endlich 16 Jahre zu werden. Endlich dürfte ich auf dem Fahrersitz Platz nehmen. Doch jetzt habe ich das Gefühl, nie wieder fahren zu wollen. Es lohnt sich nicht.

In liebe, Lola

Frustriert legte ich das Notizbuch auf meinen Nachttisch und knipste das kleine Licht an. Ich lief barfuß in das kleinere Zimmer mit dem Schreibtisch und zog meine Vorhänge etwas beiseite, um die große Glastür zu kippen. Der Donner grölte von weit weg und schien doch so unendlich nah. Kurz fiel mein Blick in das Zimmer gegenüber von mir. Die Vorhänge waren einen Spalt auf und auch aus diesem Zimmer schien Licht. Da konnte wohl jemand genauso wenig Schlafen wie ich.

Als am Morgen mein Wecker klingelte, verfluchte ich den wenigen Schlaf meiner letzten Stunden. Mein Bauch kribbelte vor Angst und Aufregung. Ich putzte mir die Zähne und kämmte mein Haar durch, bevor ich beschloss, wenigstens etwas meine Wimpern zu tuschen und Rouge aufzutragen. Ich wollte nicht direkt den Ruf der wandelnden Leiche tragen. Der der neuen würde mir zu Genüge tun.

Ich griff nach einem weißen Shirt, das Liam mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Er stand auf diesen Casual Style und lief jeden Tag selbst in diesem herum. Er war ein fröhlicher, aufgeweckter... junger Mann. Der noch sein ganzes Leben vor sich hatte. Ich fragte mich, ob der Direktor eine Durchsage machen würde, wie seine Mitschüler und Mitschülerinnen auf die Nachricht reagieren würden. Vielleicht wusste es inzwischen auch schon die gesamte Schule. Vielleicht würden alle untereinander tuscheln.

Dass er in den Ferien verstorben ist, gab mir die Zeit, stumm und heimlich vor all den Blicken zu fliehen. Doch ich wäre ebenso bereitgewesen, für Liam einzustehen. Doch das hatten mir meine Eltern mit diesem Umzug verwehrt.
In der Küche warteten meine Eltern mit einem Lächeln auf den Lippen und einer riesigen Torte auf dem Tisch auf mich. Stumm blickte ich zu den angezündeten Kerzen. Sie strahlten eine solche Ruhe aus und waren doch die größte Gefahr.

„Alles gute mein Spätzchen." Meine Mutter stand auf und legte ihre dünnen Arme um mich. Nur halbherzig erwiderte ich die Umarmung. Ich hatte meinen Geburtstag einfach nur vergessen wollen. Und diese Torte war für mehr Leute gedacht, als ich in Kalifornien kannte. Meine Eltern meinten es gut, aber den Schaden, den sie begonnen hatten, anzurichten, vergrößerte sich von Tag zu Tag. Und sie um mich herumzuhaben, dafür war zu spät. Sie waren kein relevanter Teil meines Lebens. Nicht mehr. Sie hatten sich für ihre Arbeit entschieden – und gegen ihre Kinder.

Liebes Tagebuch || #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt