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Als ich die Tür zu unserem Wohnwagen öffne, leeren sich die Straßen von Tremoris langsam. Nach und nach kehren die Leute in ihre Häuser zurück, die Straßenlaternen werden gelöscht, bis die Stadt sich im Zwielicht befindet. Richtige, natürliche Helligkeit gibt es in Tremoris nie, weshalb es auch keine richtige Nacht gibt. Dennoch haben die meisten Menschen sich einen zirkadianen Rhythmus angewöhnt, und das ist auch nötig, denn wenn jeder seine eigenen Schlaf- und Wachzeiten hätte, würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren.

Und so spüre ich bereits, wie Müdigkeit durch meine Glieder kriecht, als ich die Tür hinter mir zuziehe. Es ist erst kurz nach neun, aber der Tag war lang. Es hat sich allerdings gelohnt.

Die Münzen in meinen Taschen klimpern, während ich den schmalen Gang entlanggehe, der zu unserem Wohnzimmer führt. Sobald ich durch den Perlenvorhang getreten bin, fallen meine Stiefgeschwister förmlich über mich her.

„Hast du mir was mitgebracht?", ruft Tristan und springt vom Sofa auf.

„Hast du dein Los in den Topf geworfen?", ruft Galadrielle mit strahlenden Augen.

Ich lasse mich auf das Sofa sinken. „Wo steckt denn eure Mutter?", frage ich müde, ohne auf ihre Fragen einzugehen.

„Hat sich schlafen gelegt", sagt Galadrielle. „Ihr ging es nicht so gut."

Ich runzle die Stirn. „Das klingt übel. Hat sie ihre Medizin genommen?"

Meine Schwester zuckt die Achseln.

„Na gut, ich hab jedenfalls Nachschub dabei", sage ich, schaffe es jedoch nicht ganz, die Sorge abzuschütteln. Vielleicht nehme ich mir morgen mal einen Tag frei. Ich habe heute so viel verdient, dass ich es mir leisten kann und Adiras Zustand bereitet mir schon seit einigen Tagen Sorgen; ich habe den Eindruck, dass es sich verschlimmert.

Galdrielle steht auf, geht zur Küchenzeile und schöpft mir einen großen Löffel voll Eintopf in eine Schale. Dann stellt sie das Abendessen vor mir ab.

„Wir haben schon gegessen, aber es ist noch genug für dich da", sagt sie. Ich lächle sie dankbar an.

„Jetzt sag schon, hast du deinen Namen in den Topf geworfen?", bohrt sie nach, während ich esse.

„Natürlich nicht", sage ich. „Das Ganze ist Unsinn, Süße. Denk nicht so viel darüber nach. Diese ganze Sache mit dem Mitternachtsball, das ist nichts weiter als ... ich weiß auch nicht genau, aber es kommt mir nicht geheuer vor. Man sollte die Finger davon lassen."

„Aber es ist so aufregend!", ruft sie aus und ihr Bruder nickt energisch. „Die Gläserne Stadt! Wie es dort oben wohl aussieht? Wie der Himmel aussieht?"

Ich seufze. „Ihr solltet wirklich nicht so viele Gedanken daran verschwenden", sage ich und richte den Blick wieder auf meine Schüssel. Damit ist das Thema für mich erledigt. Ich bin todmüde nach diesem Tag und möchte nichts mehr als in meine Schlafkammer zu kriechen. Meine Geschwister sagen nichts mehr und so schweifen meine Gedanken ab, gleiten zurück zu den Erlebnissen des Tages, rufen sich all die glücklichen Gesichter noch einmal in Erinnerung, die aufgeheizte Stimmung in der Stadt, das Mittagessen mit meinem besten Freund.

Die Suppe wärmt mich von innen und ich spüre, wie ich immer schläfriger werde, bis ich fast über meinem Teller eindöse.

„Na ja, ich werde es ja vielleicht sowieso bald erfahren", sagt Galadrielle dann und kichert. Ich fahre hoch. Schlagartig bin ich wieder wach.

„Was? Wie meinst du das?"

„So, wie ich es gesagt habe. Vielleicht habe ich ja Glück und gewinne eine Eintrittskarte für den Ball."

„Was? Aber ... aber du bist ..."

„... seit zwei Wochen endlich sechzehn", vollendet sie meinen Satz mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Dieses Jahr habe ich auch ein Los bekommen. Sag bloß, du hast das vergessen?"

Sämtliche Farbe weicht mir aus dem Gesicht. Ich springe auf. „Du wirst nicht auf diesen Ball gehen!", stoße ich hervor. „Ich verbiete es dir!"

Mein Puls rast. Galadrielle bedenkt mich mit einem eigenartigen Blick, den ich nur schwer deuten kann. Eines erkenne ich darin allerdings ganz deutlich. Es ist derselbe Ausdruck, den auch Emeric heute Mittag aufgesetzt hat, als wir über den Ball gesprochen haben: Es ist Trotz.

Dann zieht sie langsam eine Augenbraue in die Höhe und verzieht ihre Lippen zu einem überlegenen Lächeln – ein Ausdruck, den sie seit einiger Zeit praktisch perfektioniert hat. Sie entdeckt ihre rebellische Seite und auch wenn ich mich an manchen Tagen frage, wo das süße kleine Mädchen von früher hin ist, gönne ich es ihr, weil ich weiß, dass ich mit sechzehn genauso war.

Aber nicht, wenn es um den Ball geht. Bei diesem Thema kenne ich keine Kompromisse. Einen Augenblick lang starren wir uns nur an, wie zwei Katzen kurz vor dem Kampf. Dann wendet sie den Blick ab und sagt betont langsam: „Du kannst mir nichts verbieten, Cinna. Du bist nicht meine Mutter."

Mein Herz wummert noch immer in meiner Brust. Mir wird ein wenig übel.

„Das stimmt, aber ich werde mit Adira reden und ich bin mir sicher, dass sie mir recht gibt." Hoffentlich hört sie nicht, wie sehr meine Stimme zittert. Ich kann es mir selbst nicht ganz erklären, aber wenn es um diesen Ball geht, macht sich Panik in mir breit. Es ist, als würde ich instinktiv spüren, dass dort oben etwas Schlechtes vor sich geht, etwas Böses. Wenn ich das allerdings ausspreche, nimmt Galadrielle mich überhaupt nicht mehr ernst. Natürlich weiß ich, was alle denken: Das gleiche wie Emeric. Dass mein Vater in Celestria geblieben ist, weil es ihm dort besser gefallen hat als bei uns.

Ich weiß nicht, ob Adira das auch glaubt. Sie ist die zweite Frau meines Vaters. Sie ist nicht meine Mutter, die ist kurz nach meiner Geburt verstorben, aber sie ist mir eine gute Ersatzmutter geworden und seit mein Vater verschwunden ist auch eine gute Freundin. Wir haben nie besonders viel über den Mitternachtsball gesprochen oder über Vaters Verschwinden – was sollte es darüber auch zu reden geben? –, doch ich bin mir sicher, dass sie gegen Galadrielles Bewerbung sein wird. Niemals wird sie es zulassen, dass ihre geliebte Tochter denselben Fehler macht wie ihr Mann. Niemals!

Galadrielle zuckt die Achseln. „Das spielt keine Rolle", sagt sie nun. „Ich habe das Los sowieso schon reingeschmissen."

Kurz bleibt mir die Spucke weg. Hilflos sehe ich zu Tristan, doch das ist albern, er kann mir garantiert nicht helfen – er ist noch ein Kind. Ich schlucke hart und beschließe, meine Taktik zu ändern. Was meine Schwester zur Zeit am wenigsten leiden kann, ist, bevormundet zu werden. Wie ein kleines Kind behandelt zu werden. Das verstehe ich und mir wird klar, dass meine erste spontane Reaktion ein großer Fehler war. Für einen kurzen Augenblick schließe ich die Augen, dann atme ich einmal tief durch.

„Bitte", sage ich dann schließlich, als ich ihr wieder in die Augen sehe. „Bitte, Galadarielle. Ich flehe dich an. Geh nicht zu diesem Ball."

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now