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Ich gebe es zu: Beim Essen habe ich zum ersten Mal kurz den Gedanken, dass ich es verstehen kann, wenn man hier oben bleiben will. Eine solche Auswahl gibt es in Tremoris selbst an den größten Festtagen nicht. Und ausnahmslos alles davon schmeckt einfach köstlich. Wir sitzen an zwei langen Tafeln und als ich mir den Teller zum dritten Mal mit den buntesten und exotischsten Gemüsesorten volllade, die man sich nur vorstellen kann, schiele ich zu Kaida am anderen Tisch. Als hätte sie es gewusst, sind wir tatsächlich getrennt worden. Wenig kreativ wurden wir nach unseren Nachnamen in zwei Gruppen aufgeteilt, und als Caveholm bin ich in der Gruppe A – M, während Kaida Thorne in der zweiten Gruppe gelandet ist.

Unsere Blicke treffen sich. Ich muss schlucken. Kaidas besorgter Gesichtsausdruck trägt nicht unbedingt dazu bei, dass ich mich entspanne.

„Ich bin Lu, und du?", reißt mich das Mädchen neben mir aus meinen Gedanken und ich wende den Blick von Kaida ab. „Also, eigentlich Luisa Lorender. Aber Lu reicht."

„Cinna", sage ich und betrachte sie genauer. Sie hat dunkle Locken und hellgrüne Augen, deren kindlicher Ausdruck mich auf schmerzhafte Art an Tristan erinnert. Sie muss unglaublich jung sein, auf keinen Fall älter als sechzehn. Wie viele andere trägt sie bereits ein schillerndes Ballkleid.

„Freut mich sehr, Cinna", sagt sie. „Bist du auch so aufgeregt? Ich bin wahnsinnig aufgeregt! Heute ist mein sechzehnter Geburtstag, ich habe gar nicht damit gerechnet, dass ich dieses Jahr schon ein Los bekomme. Aber dann war es plötzlich in der Post. Man muss wahrscheinlich ein riesiges Glück haben, um beim ersten Mal direkt ausgewählt zu werden, oder?"

„Ähm, ja", sage ich, weil ich es nicht übers Herz bringe, ihr zu sagen, was ich wirklich von der ganzen Sache halte. „Großes Glück", murmle ich. „Alles Gute zum Geburtstag, Lu."

„Danke. Und, hast du noch ein Abendkleid dabei oder wirst du dich einkleiden lassen?", fragt sie. Sie scheint es überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen, dass ich in meinem aktuellen Outfit zum Ball gehen werde – und ich tue das auch nicht mehr.

„Ich ..." Kaidas Worte fallen mir wieder ein. Versuch, ihre Spielregeln mitzuspielen.

Und Diannes Warnung: Nicht an gutem Aussehen sparen, je hübscher und auffälliger, desto besser.

Emerics Kleid ist verglichen mit den anderen hier unglaublich schlicht. Und verglichen mit den Kleidern, die in der Garderobe auf uns warten, vermutlich absolut unscheinbar. Ich sollte auf Kaida und Dianne hören und mir in der Garderobe das schillerndste Outfit aussuchen, das ich finden kann, aber mein Herz will Emerics Kleid tragen. Er ist mein bester Freund, dass ich ihn ohne ein Wort zurücklassen musste, schmerzt noch immer – und aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass sein Kleid mir Glück bringen wird, auch wenn ich gar nicht genau weiß, wozu ich es brauchen werde.

„Ich weiß es noch nicht", sage ich schließlich, als mir klar wird, dass Lu immer noch auf eine Antwort wartet.

„Ich glaube, ich entscheide das später, wenn ich in der Garderobe die anderen sehe", erklärt Lu mit einem breiten Grinsen und schaufelt sich auch noch eine Portion Essen auf den Teller. „Vielleicht solltest du das auch tun."

„Guter Plan", sage ich. Und nach kurzem Zögern: „Sag mal, weißt du, was uns heute Abend erwartet? Was passiert auf dem Ball genau?"

Ich weiß nicht so recht, warum ich frage. Ich denke, dass wir alle gleich viel über die Veranstaltung wissen, aber vielleicht täusche ich mich ja. Viele von den anderen wirken so begeistert und aus vollstem Herzen überzeugt von der ganzen Sache, es ist, als hätten sie schon ihr Leben lang gewartet und gehofft, eines Tages auserwählt zu werden. Und sie wirken mit ihren prächtigen Kleidern so gut vorbereitet. Wenn man von etwas so lange träumt, dann befasst man sich auch ausgiebig damit. Möglicherweise wissen sie ja doch ein bisschen mehr als ich.

Ich muss zugeben, dass ich mich nie sonderlich viel mit Celestria und dem Mitternachtsball beschäftigt habe, auch nach Vaters Verschwinden nicht. Vielleicht, weil ich zu große Angst vor den Antworten auf meine Fragen hatte.

„Ich weiß es auch nicht genau", sagt Lu, und ihre Augen leuchten dabei. „Aber das ist doch gerade das Spannende daran, oder? Ich meine, dass wir keine Ahnung haben, was uns erwartet. In Tremoris ist oft alles so ... Ach, ich weiß auch nicht. Ich meine, die Stadt ist in Ordnung, sie ist riesig und es gibt immer was Neues zu entdecken, aber hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dort unten eingesperrt zu sein?"

„Doch", gebe ich zu, „aber das sind wir hier auch. Ich glaube, man vergisst es leicht, weil man die Kuppel kaum sehen kann, aber denk dran, dass wir auch Celestria nicht verlassen können. Außerhalb der Stadt könnten wir nicht überleben. Die Hitze. Die Atemluft. Nicht zuletzt die Strahlung. Wir würden innerhalb kürzester Zeit eingehen."

Lu zuckt nur die Achseln. „Ich weiß. Aber es fühlt sich mehr nach Freiheit an als anderswo."

„Verstehe", murmle ich, und das tue ich wirklich.

„Eine Sache gibt es doch", flüstert Lu. Sie lehnt sich zu mir und hat einen verschwörerischen Gesichtsausdruck aufgesetzt, als würde sie mir nun ein Staatsgeheimnis anvertrauen. „Es gib Gerüchte. Ich habe ein paar Frauen vorhin darüber reden hören ... Natürlich weiß ich nicht genau, was dran ist, aber es würde einige Dinge erklären. Angeblich kommt ein Prinz zum Ball. Und angeblich wird er sich heute Abend eine Frau suchen."

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWo Geschichten leben. Entdecke jetzt