~ 12 ~

119 17 8
                                    

Wir fahren durch einen Wald an riesigen, kristallenen Häusern. Die Sonne spiegelt sich in ihren Fassaden und ich kapiere schnell, warum wir die Brillen bekommen haben. Sogar ihr Spiegelbild brennt höllisch in den Augen und zwingt mich trotz Schutz dazu, sie leicht zusammenzukneifen. Die Sonne selbst werde ich mir gar nicht ansehen können. Irgendwie enttäuscht mich diese Erkenntnis, aber ich werde schnell von den Bildern der Stadt abgelenkt.

Das Tageslicht ergießt sich über uns, bricht sich in den funkelnden Wolkenkratzern aus Glas und Marmor und erzeugt ein kaleidoskopisches Spektakel aus Farben, das über die Fassaden der Häuser tanzt. Ich recke den Hals und winde mich in meinem Sitz herum, um einen Blick nach oben erhaschen zu können, zum Himmel. Strahlend blau spannt er sich über uns, schöner als in meinen wildesten Träumen. Dass Celestria sich unter einer gigantischen gläsernen Kuppel befindet, ist von hier unten gar nicht zu erkennen.

Während die Bahn sich in irrsinniger Geschwindigkeit durch die Gläserne Stadt bewegt, nehme ich die Bilder in mir auf, die an mir vorbeirauschen. Märchenhafte Plätze, riesige Wasserfälle, die von den Gebäuden herabstürzen, kunstvoll angelegte Parks und Gärten, die mit Blumen und Skulpturen aus bunten Edelsteinen geschmückt sind. Und alles ist so wahnsinnig hell, so viel Blau und Grün. Die Straßen sind wie ein endloses Mosaik aus schimmernden Juwelen und schillerndem Glas, absolut atemberaubend. Zum ersten Mal kann ich nachvollziehen, dass Menschen von dieser Stadt träumen. Zum ersten Mal kann ich das Gerede von Schönheit und Helligkeit verstehen. Jetzt, wo ich das Licht von Celestria kennengelernt habe, brauche ich für das Licht in Tremoris ein neues Wort, denn es passt nicht mehr. Es sind zwei vollkommen unterschiedliche Dinge.

Die Bahn schlängelt sich weiter durch die Stadt und die anderen Frauen im Zug geben begeisterte Töne von sich. Ein kurzer Blick verrät mir, dass sie alle förmlich an den Scheiben kleben, die Hände am Glas, die Nasen plattgedrückt, die Augen funkelnd wie die von kleinen Kindern am Weihnachtsabend. Ihnen allen scheint es so zu gehen wie mir, sie alle können sich einfach nicht sattsehen. Verständlich.

„Es ist unglaublich", flüstert Kaida neben mir. Ich drehe mich zu ihr um. Das Licht spiegelt sich in ihren Augen, lässt sie noch wacher und klüger wirken als ohnehin schon. Jetzt erkenne ich goldene Sprenkel in dem Blau, einen dunkleren Rand um die Iris. Wie vieles gibt es in Tremoris noch, das ich gar nicht sehen kann, weil es dort unten niemals hell genug ist?

„Das ist es", stimme ich ihr zu und richte den Blick wieder aus dem Fenster. Ich will nichts von dem Anblick verpassen.

„Ist es schön genug, dass du dafür deine Familie und Freunde verlassen würdest?", raunt sie.

„Nichts könnte so schön sein."

„Geht mir genauso. Schau mal, die Leute." Sie deutet nach unten.

Ich reiße den Blick von den funkelnden Fassaden, Gärten und Kunstwerken aus Wasser und Juwelen los und richte meine Aufmerksamkeit stattdessen nach unten. Wir fahren gerade über eine Brücke, die über einen großen Platz führt. Dort haben sich Unmengen an Menschen versammelt und jubeln uns zu.

In gewisser Weise sehen sie aus wie die Leute, die in Tremoris leben. Aber gleichzeitig doch ganz anders. Ihr Kleidungsstil ist anders, heller, schillernder. Und sie haben die unterschiedlichsten Hautfarben, von hell bis dunkel, wobei kaum jemand so blass ist, wie wir es sind. Sie schwenken bunte Flaggen, die Schriftzüge darauf kann ich nicht erkennen. Aber dort unten scheint eine richtige Party stattzufinden.

„Sie begrüßen uns wie Stars", murmle ich.

Im nächsten Moment haben wir die Brücke bereits überquert und die Bahn verschwindet in einem Tunnel. Für einen kurzen Augenblick wird das Innere des Waggons nur noch von schummrigen Lampen erhellt. Es kommt mir stockfinster vor, doch dann wird mir klar, dass es genauso hell ist, wie in Tremoris an einem normalen Nachmittag. Die Erkenntnis erschüttert mich.

Die Kristallbahn schießt wieder ins Freie und bricht durch einen Wasserfall. Die anderen Frauen stoßen begeisterte Schreie aus. Und ich ebenso. Auch wenn ich mir fest vorgenommen habe, hier oben alles schrecklich zu finden, ich kann nicht. Ich kann einfach nicht fassen, wie schön es hier ist.

Wir fahren um eine Kurve und dann mitten durch einen leuchtend grünen Park. An all den Pflanzen kann ich mich kaum sattsehen. Die Wurzeln, Knollen und Pilzwälder in Tremoris, die alle eher gräulich sind, sind nichts im Vergleich dazu.

Dann reißt mich eine Stimme von dem Anblick los. Dianne steht ganz vorne im Abteil und hat angefangen zu sprechen. Ich wende den Blick zu ihr. Neben ihr stehen nun noch eine andere Frau – ebenfalls in einem silbernen Kleid, wenn auch weniger streng geschnitten – und ein Mann in einem rotglänzenden Anzug. Ihre Haare, sowohl die von der Frau als auch die vom Mann, sind streng nach hinten gekämmt und beide sind um die Augen auffällig schwarz geschminkt.

„Wir werden nun gleich am Palast ankommen", erklärt Dianne, „deshalb nun noch ein paar Worte. Diese beiden hier, das sind Isadora und Lucien. Es sind eure Tutoren, die euch während des ganzen Spektakels jederzeit für Fragen zur Verfügung stehen werden. Nicht nur für Fragen, für Anliegen jeglicher Art. Betrachtet sie sozusagen als Eure Bezugspersonen, solange ihr in Celestria seid."

Die beiden Angesprochenen lächeln und nicken. Ihre Gesichter sind freundlich und arglos, trotzdem habe ich nicht wirklich das Bedürfnis, mich ihnen anzuvertrauen. Und warum sollte ich das auch? Mit welchem Anliegen?

„Schon ein bisschen merkwürdig, dass wir für einen stinknormalen Ballabend Tutoren und Bezugspersonen brauchen, was?", wispert Kaida und spricht damit genau das aus, was ich denke. Ich nicke. Es ist merkwürdig. Es wird mit jeder Minute offensichtlicher, dass uns hier Dinge verschwiegen werden.

„An dieser Stelle werde ich mich von euch verabschieden", sagt Dianne nun. „Isadora und Lucien werden euch in das Gebäude begleiten und euch zum Speisesaal bringen. Dort wartet schon das Mittagessen auf euch, ihr seid sicher hungrig. Danach geht es an die Vorbereitung für den Ball, auch dabei werden euch die beiden zur Seite stehen. Ich sehe, dass viele von euch bereits ein Abendkleid dabei haben. Das dürft ihr selbstverständlich tragen, ihr könnt euch aber gerne eins aus unserer großzügigen Garderobe auswählen. Danach geht es in die Maske, wo ihr professionell geschminkt und frisiert werdet."

„Und wenn wir das nicht wollen?", ertönt eine Stimme. Ein Murmeln geht durch die Menge. Ich registriere erst eine Sekunde verzögert, dass es Kaida war, die gesprochen hat, und schiele zu ihr. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und einen angriffslustigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Ich verkneife mir ein Grinsen.

Dianne lächelt, doch es wirkt ein wenig verkniffen. „Wir werden euch nicht zwingen. Ihr dürft zum Ball gehen, wie ihr möchtet, auch in eurer Alltagskleidung, von mir aus auch in Lumpen. Ich möchte euch jedoch eindringlich empfehlen, nicht an gutem Aussehen zu sparen. Je auffälliger und hübscher ihr heute Abend seid, desto besser."

Kaida runzelt die Stirn, nickt jedoch und sagt nichts mehr.

„Was soll das heißen?", hake ich leise nach. „Wie meint sie das?"

„Ich weiß es nicht", sagt meine neue Freundin nach einer Pause. „Aber mein Instinkt sagt mir, dass das kein netter Ratschlag war, sondern eine Warnung. Wir sollten auf sie hören."

Ich schlucke und sehe wieder nach vorn. In diesem Moment haben wir den Palast erreicht und die Bahn stoppt.

„Wenn wir uns ein Kleid aus der Garderobe aussuchen, dürfen wir es dann behalten?", fragt ein junges Mädchen aus der Gruppe. Ein paar kichern.

Dianne nickt langsam. „Das Kleid, das ihr am Ball tragt, gehört euch. Ihr dürft es behalten bis ... zum Schluss."

Ein paar Teilnehmerinnen jubeln, aber ich hänge an der merkwürdigen Formulierung. Bis zum Schluss?

„Es war mir eine Ehre, euch kennenzulernen und bis hierher begleiten zu dürfen", sagt Dianne. „Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich wünsche euch viel Vergnügen auf dem Ball, vor allem aber Glück, Erfolg und einen klaren Verstand. Ich bin mir sicher, wir werden Großes von euch erwarten. Und nun übergebe ich an Lucien und Isadora."

Die Menge setzt sich in Bewegung und strömt in Richtung der Türen.

„Wir werden sie nicht mehr sehen?", frage ich Kaida. „Und wer bringt uns dann zurück?"

Kaida starrt mich nur finster an und antwortet nicht. Das ist auch nicht nötig, meine Antwort kann ich mir selbst geben: Niemand.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now