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„Sie müssen Mr Skyforge entschuldigen", redet der Security auf mich ein, während er mich den langen Flur zurückführt in Richtung Ballsaal. Er hat einen unverbindlichen Plauderton aufgelegt und lächelt gutmütig, als hätten er und sein Kollege nicht vor wenigen Minuten versucht, einen Mann zu erschießen. „Er ist manchmal ein wenig verwirrt. Eigentlich ist er in psychiatrischer Behandlung und sollte gar nicht auf dem Ball sein, es tut mir außerordentlich leid, dass Sie eine solch unschöne Szene erleben mussten – und das ausgerechnet beim Mitternachtsball, auf den Sie sich mit Sicherheit sehr gefreut haben, ich bin untröstlich."

Ich möchte lachen, so absurd ist das Ganze, doch noch immer bin ich komplett verstört von der Szene, die sich gerade vor meinen Augen abgespielt hat. Immer wieder sehe ich Kaels panisches Gesicht vor mir, seinen Schuh im Dreck liegen, und ich frage mich, ob der andere Kerl ihn inzwischen erwischt hat. Und was macht er mit ihm, wenn er ihn erwischt? Wird er ihn töten?

Dass Kael psychisch verwirrt ist, das glaube ich keine Sekunde. Er wollte mich warnen, mich beschützen, daran habe ich nun keinen Zweifel mehr – auch wenn ich immer noch nicht genau weiß, wovor.

Stumm folge ich dem Wachmann, weil mir nichts anderes übrigbleibt. Doch ich vergesse Kaels Worte nicht und nehme mir fest vor, Kaida einzuweihen. Seit unserer Flucht kann höchstens eine halbe Stunde vergangen sein. Wenn ich Kael glauben kann, ist bis zur großen Zeremonie also noch genug Zeit, und er hat mir ja erklärt, wo ich hingehen muss. Ich werde mir Kaida schnappen und dann mit ihr verschwinden. Und hoffen, dass er es lebendig zum Echostrider schafft und sein Versprechen, uns zurückzubringen, halten kann.

Je weiter wir gehen, desto lauter wird die Musik. Der Wachmann schlägt einen anderen Weg ein als Kael zuvor und nach einer Weile stehen wir wieder vor der breiten Flügeltür, durch die ich am Anfang des Balls mit den anderen Besucherinnen aus Tremoris gekommen bin. Die Gänge des Palasts sind das reinste Labyrinth.

Er deutet eine Verbeugung an und lächelt milde, doch er kann mir nichts vormachen. In seinen Augen glitzert eine eindeutige Warnung: Versuch das nicht noch einmal.

„Ich wünsche Ihnen noch einen wundervollen Ballabend, Miss", sagt er und öffnet mir die Tür. „Möge Ihr Pfad von Sternen erleuchtet sein."

Er bugsiert mich durch die Tür und schon bin ich wieder im Ballsaal. Die Party um mich herum tobt in vollem Gange, als wäre nie etwas geschehen, und nur aus dem Augenwinkel sehe ich, dass der Security, dessen Namen ich nicht einmal kenne, die Türe hinter sich fein säuberlich mit einem Schlüssel verschließt.

Nach allem, was gerade passiert ist, würde ich mich am liebsten in irgendeine Ecke kauern und warten, bis das Ganze endlich vorbei ist und ich wieder nach Hause kann. Doch das geht nicht. Egal, wie ausgelaugt und aufgewühlt ich mich fühle, ich habe keine Zeit, mich auszuruhen. Dass hier im Palast etwas Ungutes auf mich wartet, hatte ich schon befürchtet, genau wie Kaida. Und auch wenn ich nicht weiß, was es genau ist, kann ich all die Warnungen nicht mehr ignorieren: Mein Bauchgefühl, all die merkwürdigen Andeutungen von Dianne und den Tutoren, nicht zuletzt der Fremde, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, um mich hier rauszuholen.

Ich stürze mich also ins Getümmel und begebe mich auf die Suche nach Kaida. Was vorhin schon schwierig war, erscheint mir nun, wo sie das Licht gedimmt haben, schier unmöglich. Im Halbdunkel sehen alle gleich aus, inzwischen haben die meisten Gäste auch einiges von dem Wein intus, der an den Tischen ausgeschenkt wird, und während ich mich durch die tanzenden Massen schiebe, bekomme ich mehr als einen Ellenbogen in die Rippen. Dass ich keinen Schimmer habe, wie spät es ist, stresst mich zusätzlich. Mein Zeitgefühl lässt mich gerade kläglich im Stich. Ist es bereits nach zehn? Halb elf? Gar schon elf? Dann bleibt uns nur noch eine Stunde, um von hier zu verschwinden.

Tatsächlich jedoch dauert es nicht besonders lange, bis ich Kaida finde. Nun zahlt es sich aus, dass sie ein derart pompöses Kleid gewählt hat: Die Farbe, Weiß, leuchtet im Halbdunkel regelrecht und sobald sie in mein Sichtfeld getreten ist, gibt es keine Chance mehr, sie nicht zu sehen. Sie steht am Rand der Tanzfläche und lässt ihren Blick durch den Saal schweifen.

Erleichtert stoße ich die Luft aus, während ich mir meinen Weg zu ihr bahne.

„Den Schatten sei Dank, da bist du!", stoße ich hervor. Stirnrunzelnd sieht sie mich an.

„Ist was passiert?" Ihre Stimme klingt alarmiert.

„Ja", sage ich nur. „Wir müssen hier raus, Kaida. Und zwar schnell."

Sie zögert keine Sekunde und fragt auch nicht nach, wofür ich ihr unglaublich dankbar bin. Stattdessen setzt sie einen grimmigen, entschlossenen Gesichtsausdruck auf und nickt.

„Alles klar! Dann lass uns mal verschwinden!"

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now