~ 19 ~

97 13 6
                                    

"Wie meinst du das?", würge ich hervor.

Kael öffnet den Mund und setzt zu einer Antwort an, doch im selben Moment verstummt die Musik und auf der Bühne springen mit einem lauten Knall die Lichter an. Ich zucke heftig zusammen und wir fahren auseinander, doch er hält mich mit einem Arm weiterhin fest, presst mich an sich, als wollte er mich beschützen, vor was auch immer.

Ein paar Besucherinnen schreien auf, dann herrscht Totenstille im Saal.

Ein Blick nach oben in Kaels halb verborgenes Gesicht zeigt mir, dass auch er angespannt ist. Sein Blick ist auf die Bühne gerichtet, die Augen leicht zusammengenkniffen, die Sehnen an seinem Hals treten deutlich hervor.

Kein Wunder nach dem Satz, den er soeben rausgehauen hat. War das etwa ein Witz? Eine Art Test? Gehört das zur Show? Es hat sich nicht so angefühlt. Mein Herz rast.

„Lass mich los", murmle ich und winde mich aus seinem Griff. Erst jetzt scheint ihm klar zu werden, dass er mich noch immer hält. Als hätte er sich an mir verbrannt, zieht er seinen Arm zurück, ohne jedoch auch nur einen Schritt von meiner Seite zu weichen.

„Entschuldige."

Ich sehe mich um auf der Suche nach Kaida, doch kann sie nicht entdecken. Es sind zu viele Menschen um mich herum.

„Liebe Gäste aus Celestria, verehrte Himmelsgängerinnen", schallt es aus allen Lautsprechern. Im ersten Augenblick verstehe ich nicht, wer geredet hat und recke mich ein wenig. Dann erkenne ich einen kleinen kugelrunden Mann, der inmitten der Bühne steht. Er hat schlohweißes Haar, das wattig unter einem Zylinder hervorlugt, und trägt einen lilafarbenen glitzernden Anzug. In seinem Gesicht prangt ein monströser Schnurrbart. Er sieht ulkig aus, erinnert mich an den Mann von Monopoly, einem Spiel, das ich früher oft mit Galadrielle gespielt habe, bevor sie in ihre rebellische Phase kam und nichts mehr mit mir unternehmen wollte.

„Henry Dawnbreaker", murmelt Kael.

„Wie bitte?"

Kael sieht zu mir hinab, als würde ihm erst jetzt bewusst, dass ich noch immer hier stehe.

„Henry Dawnbreaker ist der Hauptorganisator des Balls", wispert er. „Sozusagen der Chef des Ganzen, der Hauptverantwortliche. Derjenige, der irgendwann zur Rechenschaft gezogen wird für ..." Er bricht ab, schüttelt den Kopf. Richtet seinen finsteren Blick wieder nach oben zur Bühne. „Nun werden sie gleich den Mitternachtsprinzen vorstellen."

„Ach ja?"

Neugierig sehe ich wieder zur Bühne und erst jetzt wird mir klar, dass ein kleiner Teil in mir vermutet hat, Kael könnte der Prinz sein. Sofort ärgere ich mich über diesen albernen Gedanken. Der Prinz interessiert mich nicht. Diese ganze Veranstaltung hier interessiert mich nicht. Ich bin nur hier, weil mir nichts anderes übrigblieb. Und vielleicht, ein ganz kleines bisschen, um meinen Vater zu finden.

„Voller Stolz darf ich euch nun den diesjährigen Mitternachtsprinzen vorstellen: Applaus für Theron Holloway!", tönt es aus den Lautsprechern.

Applaus brandet auf, während ein weiterer Mann die Bühne betritt. Ich recke mich noch ein wenig mehr, um einen Blick auf ihn zu erhaschen, doch das muss ich gar nicht. Er ist groß gewachsen, überragt Henry Dawnbreaker um mindestens drei Köpfe, und von sportlicher Statur. Ein feiner dunkelroter Anzug aus einem leicht schimmernden Stoff schmiegt sich an seinen durchtrainierten Körper, möglicherweise eine Art Samt. Blondes, leicht gewelltes Haar fällt ihm bis auf die Schultern, und als er seine ebenfalls dunkelrote Maske abnimmt und sein Gesicht zeigt, erkenne ich hohe Wangenknochen, volle Lippen, leuchtende helle Augen und eine Nase, wie aus Stein gemeißelt. Allgemein sieht der Prinz aus wie eine Figur aus einer alten Sage. Zu glatt, zu perfekt. Ein gönnerhaftes Lächeln umspielt sein Gesicht, als er ein wenig nickt und seinen Blick über die Menge schweifen lässt, als wollte er sagen: „Ja, ich bin es wahrhaftig, der Prinz, seht her."

Manche Frauen im Publikum stoßen ein kleines Kreischen aus, rechts neben mir schnaubt jemand, und als ich mich zur Seite wende, sehe ich, dass es Kaida ist.

„Da bist du ja!", stoße ich erleichtert aus. Unwillkürlich greife ich nach ihrer Hand. „Ich habe schon befürchtet, du hättest mich im Stich gelassen."

Sie schüttelt den Kopf. „Bei der Menge an Leuten verliert man sich schnell aus den Augen." Dann richtet sie ihren Blick wieder nach oben zur Bühne. „Meine Güte, was für ein Gockel, oder? Und dass nicht alle Frauen einen Mann wollen, auf die Idee kommen sie anscheinend gar nicht."

Ich antworte nicht, gebe ihr aber insgeheim recht. Diese ganze Show ist das totale Affentheater.

„Manchen von euch scheint gerade bewusst geworden zu sein, dass sie heute Abend bereits mit Theron getanzt haben", ergreift Henry nun wieder das Wort. Ein breites Grinsen biegt seinen Schnauzer nach oben. „Nun, das war natürlich von uns so beabsichtigt und ist jedes Jahr ein Teil des Spiels. Der Mitternachtsprinz mischt sich unerkannt unter die Besucherinnen und kann sich so erlauben, sich ein Bild von den Frauen zu machen. Am Ende des Spiels wird es eine Gewinnerin geben, der ein glänzendes Leben in der Gläsernen Stadt bevorsteht – an der Seite von Theron!"

Jubel brandet auf, doch als ich meinen Blick über die Menge schweifen lasse, stelle ich fest, dass längst nicht alle Frauen so begeistert von der Aussicht sind. Ich sehe verschränkte Arme, Stirnrunzeln. Kein Wunder. Was soll das Theater? Auch wenn Celestria zweifellos schön ist, es ist ja nicht so, dass wir in Tremoris kein Leben hätten. Einfach davon auszugehen, dass wir alles aufgeben würden, nur um hier oben an der Seite dieses sogenannten Prinzen leben zu dürfen, ist ziemlich anmaßend, und ich bin erleichtert, als ich feststelle, dass es nicht nur mir so zu gehen scheint.

Es gibt allerdings auch ein paar, die die Aussicht ganz entzückend finden, wenn ich ihren Gesichtsausdruck und das Gekicher richtig deute – unter anderem Lu und Elysia, die ich nun endlich wieder entdecke. Ich hebe die Hand und winke ihnen zu, doch sie sehen mich gar nicht. Ihre glasigen Augen sind starr auf die Bühne gerichtet.

„Es ist bereits einige Zeit vergangen und ihr hattet nun alle die Gelegenheit, euch umzusehen und ein wenig gegenseitig kennenzulernen", hallt Henrys Stimme wieder durch den Saal. „Der Mitternachtsprinz wird sich nun zurückziehen. In zwei Stunden beginnt das große Spiel. Wenn ich euch einen Tipp geben darf, nutzt die Zeit, um Freundschaften zu schließen. Davon abgesehen, genießt es. Tanzt, esst, feiert! Ihr habt es verdient, und vergesst nicht: Diese Chance ist einmalig!"

Die letzten Worte schreit er förmlich ins Mikrofon und die Menge bricht in euphorisches Gejubel aus.

Henry und Theron verlassen die Bühne. Die Musik setzt wieder ein, lauter als zuvor, und das Licht wird gedimmt. Der Saal befindet sich nun in ziemlicher Dunkelheit, die lediglich durch zuckende Lichtblitze durchbrochen wird, sodass die Bewegungen der Tanzenden eckig wirken. Tiefe Bässe wummern durch den Raum und lassen Tische und Wände wackeln. „Ich sehe und höre mich mal weiter um, bis später!", ruft Kaida gegen die Musik an, und noch bevor ich etwas erwidern kann, stürzt sie sich ins Getümmel.

„Jetzt", sagt Kael in mein Ohr. Ich hatte komplett vergessen, dass er noch immer neben mir steht und wirble zu ihm herum. Er greift nach meiner Hand. „Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, einen besseren werden wir nicht kriegen. Komm mit!"

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now