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Kaida und ich gehen zurück in den Ballsaal.

„Lass uns in der Nähe der Bühne aufhalten", schlägt sie vor. „Alle anderen Türen, die wir kennen, sind abgeschlossen, da vorne stehen nur ein paar Securitys, also können wir davon ausgehen, dass dort offen ist. Sonst müssten sie ja keine Wachleute hinstellen."

„Wir kommen aber nicht an denen vorbei", entgegne ich schwach. Inzwischen wünsche ich mir nur noch, dass wir die große Zeremonie hinter uns bringen. Was immer uns erwartet, so schlimm wird es schon nicht werden, sage ich mir. Nichts ist schlimmer als diese permanente Anspannung, die ich seit Stunden fühle und die mit jeder Minute schlimmer wird.

„Das stimmt", sagt Kaida nun, „aber für den Fall der Fälle ist mir das immer noch lieber als eine verschlossene Tür. Wenn es sein muss, schaffen wir es vielleicht, die Typen irgendwie abzulenken."

Ich halte das zwar für unwahrscheinlich, nicke jedoch, weil ich selbst keine bessere Idee habe, und folge Kaida nach vorne zur Bühne. Dort angekommen bleiben wir am Rand der Tanzfläche stehen, nur ein paar Meter entfernt von den Wachleuten, die den unsichtbaren Eingang zur Rumpelkammer unter der Plattform bewachen. Hinter uns stehen die Tische, noch immer voll beladen – anscheinend füllen sich sowohl Gläser als auch Teller und Etageren selbstständig wieder nach –, doch kaum jemand sitzt noch dort. Inzwischen sind fast alle auf der Tanzfläche oder stehen in Grüppchen zusammen am Rand und unterhalten sich.

Nur wenige Sekunden, nachdem Kaida und ich uns einen Platz gesucht haben, der uns strategisch günstig erscheint, gehen auf einmal im gesamten Saal die Lichter wieder an, inklusive der Bühnenbeleuchtung. Ich schnappe nach Luft. Jetzt, jetzt ist es so weit. Die Musik verstummt und alle Gäste halten in ihrer Bewegung inne. Niemand tanzt jetzt noch, alle Blicke sind hoch zur Bühne gerichtet, wo in diesem Moment Henry Dawnbreaker ans Mikrofon tritt.

Er hat ein breites Lächeln aufgelegt, als er seinen Blick über die Menge schweifen lässt.

„Verehrte Gäste", ruft er ins Mikrofon und seine Stimme hallt von allen Seiten wider. „Ich freue mich außerordentlich zu sehen, dass ihr an diesem besonderen Abend alle so viel Spaß habt. Wir feiern dieses Jahr den 167. Mitternachtsball und diejenigen von euch, die schon öfter dabei waren oder die Veranstaltung in den vergangenen Jahren live im Fernsehen verfolgt haben, wissen, was uns jetzt erwartet: Das große Spiel zum Ende, die legendäre Abschlusszeremonie!" Er hält kurz inne und klatscht in die Hände, während das Publikum applaudiert – allerdings hauptsächlich die Männer, wenn ich mich so umsehe. Die meisten Frauen aus Tremoris wirken eher ein wenig angespannt.

„Für dieses Jahr haben wir uns etwas ganz Besonderes einfallen lassen", fährt Henry fort. „Etwas Spektakuläres. Einmaliges. Schrecklich und schrecklich schön, vor allem aber wahnsinnig aufregend für euch alle, ihr dürft also gespannt sein.

Und hier kommen die Spielregeln: Liebe Frauen aus Tremoris, nun seid ihr an der Reihe. Bisher kamen die männlichen Gäste auf euch zu und haben euch zum Tanzen aufgefordert, nun wird das Ganze umgedreht. Euch ist vielleicht schon aufgefallen, dass in den verspiegelten Wänden Türen versteckt sind und wenn ihr aufmerksam wart, habt ihr nicht nur gemerkt, dass die Türen nummeriert sind, sondern auch, dass es insgesamt fünfundzwanzig Stück sind. Ziel des Spiels ist es nun, einen Schlüssel für eine der Türen zu ergattern." Er hebt einen gläsernen Kasten in die Höhe, in dem die besagten Schlüssel hängen. „Das funktioniert, indem ein netter Herr einen von ihnen bei mir hier vorne abholt und ihn euch übergibt. Ihr müsst also Freundschaften schließen und besonders nett zu den Männern sein, denn wie ihr wisst, seid ihr fünfzig, die Hälfte von euch wird also leer ausgehen." Er macht eine kurze Pause und zwinkert selbstgefällig. Ein paar Männer lachen, doch in mir macht sich Übelkeit breit.

„Das Spiel endet zehn Minuten vor Mitternacht, bis dahin sollten alle fünfundzwanzig Schlüssel vergeben sein", fährt Henry fort. „Diese sind außerdem nummeriert und ihr habt dann noch zehn Minuten Zeit, die richtige Tür zu finden. Ich wünsche euch allen viel Spaß, viel Erfolg, und vor allem: Möge euer Pfad von Sternen erleuchtet sein."

Er deutet eine leichte Verbeugung an und verschwindet von der Bühne. Die Musik setzt wieder ein. Um mich herum herrscht mit einem Mal helle Aufregung und Betriebsamkeit, während alle anfangen umherzuwuseln und auf Beutejagd gehen. Ich hingegen starre noch immer fassungslos nach dort oben, auch wenn die Bühne nun wieder leer ist. Dann drehe ich mich langsam zu Kaida um, die mit finsterem Gesicht neben mir steht.

„Habe ich das richtig verstanden?", frage ich ungläubig. „Wir sollen besonders nett zu den Männern sein – also, uns ihnen an den Hals werfen –, damit wir diesen Saal verlassen können?"

„Jap", sagt sie nur. Ihre Lippen sind ein dünner Strich, Verachtung steht in ihren Augen.

„Also ... also sind wir wirklich hier eingesperrt, oder? Und um rauszukommen, müssen wir das Spiel mitspielen? Ich finde das ..." Mir fehlen die Worte.

„Hör zu", sagt Kaida, „mir kommt das kalte Kotzen bei der Vorstellung, diese Kerle anzubetteln, damit sie mir so ein Ding geben, aber wir müssen das unbedingt tun, verstehst du? Versprich mir, dass du mitspielst und versuchst, so einen Schlüssel zu bekommen, Cinna. Schluck deinen Stolz und deinen Ärger runter und becirce einen von diesen Typen, denn ich fürchte, dass das wirklich die einzige Chance ist, aus diesem Saal zu kommen."

„Was, glaubst du, passiert mit denen, die es nicht schaffen?" Unwillkürlich schlinge ich die Arme um meinen Oberkörper. Obwohl es hier drin so heiß ist, fröstelt mich auf einmal. Mein Herz wummert so sehr in meiner Brust, dass mir inzwischen richtig schlecht ist. Ich weiß nicht, ob ich die Antwort wirklich wissen will. Aber natürlich kann auch Kaida mir diese Frage nicht beantworten.

„Ich weiß es nicht", sagt sie langsam. „Aber nichts Gutes, nehme ich an."

Dann nickt sie mir ein letztes Mal zu und stürzt sich ins Getümmel.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now