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Irgendwann hören die Flammenwerfer auf, Feuer zu spucken. Fast alles ist inzwischen niedergebrannt und nur noch wenige Flammen züngeln an verschiedenen Stellen. Der Rauch hängt noch in der Luft, doch eine merkwürdige Stille hat sich über den Saal gelegt. Noch immer sitze ich in meiner Ecke, konzentriere mich darauf, das Feuer auf Abstand zu halten, auch wenn fast nichts mehr da ist.

Und dann kommt der Regen, feiner Niesel, der aus Deckendüsen herabrieselt, und die restlichen Flammen löscht. Irgendwann verschwindet auch der Rauch und ich erkenne all die kleinen schwarzen Haufen, die im ganzen Saal verteilt sind, weiß nicht, was einmal ein Mensch war oder was ein Möbelstück, und bin froh darum, den Unterschied nicht zu erkennen. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen könnte. Irgendwann gebe ich meinen Schutz auf, ich bin zu erschöpft. Mit der Hitze dringt auch der Geruch wieder zu mir. Nun kann ich nicht mehr an mich halten und übergebe mich direkt hier, zwischen meine angewinkelten Knie.


Sie kommen nur wenige Minuten später. Mit einem Mal fliegen sämtliche Seitentüren auf, die die ganze Zeit über so fest verschlossen waren, und Menschen in weißen Schutzanzügen betreten den Saal, große Putzwägen und Container vor sich herschiebend. Sie beginnen, die verkohlten Teile – Menschen – vom Boden aufzusammeln und in die Container zu verfrachten, Besen werden geschwungen und der gröbste Dreck zusammengekehrt.

Mein Schutzschild ist längst verpufft, doch noch immer kauere ich in meiner Ecke, wiege mich vor und zurück, beobachte den Putz und feine Ascheflocken, die von der Decke rieseln, unfähig, den Blick von dem Schlachtfeld vor mir abzuwenden oder irgendwas anderes zu tun. Mein Haar und mein Kleid sind komplett durchnässt, auch wenn die Sprinkleranlage bereits wieder gestoppt wurde.

Eine Frau geht vor mir in die Hocke, stirnrunzelnd, und spricht mit mir, doch ihre Worte wollen nicht zu mir durchdringen. Sie trägt einen weißen Schutzanzug, gelbe Plastikhandschuhe, eine Haube über dem Haar und eine weiße Maske über Mund und Nase.

Irgendwann greift sie nach meiner Hand und zieht mich hoch, sie schleift mich hinter sich her und ich denke im letzten Moment noch dran, mit einem großen Schritt über mein Erbrochenes zu steigen. Widerstandslos folge ich ihr, während sie mich durch den Saal führt, und ich richte meinen Blick starr auf ihren Rücken, will nichts anderes sehen. Was ich gesehen und gehört habe, war bereits zu viel, und nun wünschte ich, ich könnte diesen Geruch ebenso ausblenden, doch das ist schwieriger. Er hat sich in meiner Nase festgefressen und ich fürchte, ich werde ihn nie wieder los.

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass ein paar der anderen Leute stehengeblieben sind und mir und der Frau neugierig hinterherstarren, doch es kümmert mich nicht. Ich gehe ihr einfach hinterher, nichts denken, nichts fühlen, und bloß nicht hinschauen, und dann haben wir den Saal verlassen und sind wieder in dem breiten Flur, durch den wir gekommen sind. Keine sieben Stunden ist es her, doch es fühlt sich so an, als wäre es ein anderes Leben gewesen, und vielleicht stimmt das auch.

Fröhliche Musik tönt hier aus Lautsprechern in der Decke, und sie fühlt sich so falsch an, so fehl am Platz, dass ich am liebsten lachen würde. Doch ich lache nicht.

Wenige Minuten später sind wir in der Garderobe angekommen und die Frau redet erneut auf mich ein, doch ich schaffe es nur, sie verständnislos anzustarren. Ich kann sie hören, laut und deutlich, doch ich kapiere nicht, was sie von mir will, es ist, als würde sie eine andere Sprache sprechen.

„Isadora kommt gleich und bringt dich auf dein Zimmer", sagt sie, und ich nicke, auch wenn ich nicht verstehe, was das bedeuten soll.

Die Frau verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich, und sobald die Tür verschlossen ist, schlägt mein Herz wie wild und ich renne hin und reiße sie wieder auf. Ich brauche Luft und Platz, zumindest die Illusion davon. Dann gehe ich zurück in den Raum. Ich finde meinen Rucksack in der Ecke, da wo ich ihn vor dem Ball abgelegt habe. Der von Lu ist verschwunden, aber Elysias liegt noch dort, und etwas strahlend Gelbes lugt daraus hervor. Ich ziehe daran; es ist der Schmusestern.

Ohne genau zu wissen, warum, nehme ich ihn an mich, drücke ihn an meine Brust, und dann sinke ich zu Boden und weine hemmungslos.

Ein paar Minuten vergehen, oder vielleicht sind es auch Tage, dann betritt Isadora die Garderobe, ein mitfühlendes Lächeln auf dem Gesicht.

„Wie geht es dir?", fragt sie mich. Ich antworte nicht. Was soll ich auch antworten? Wie geht es mir? Ich weiß es nicht. Ich fühle nichts.

„Na, komm", sagt sie und reicht mir die Hand. Ich greife sie automatisch und lasse mich hochziehen.

„Hast du deine Sachen, dein Gepäck?", fragt sie. Ich nicke, meinen Rucksack geschultert, Elysias Stern noch immer an mich gepresst.

Was passiert mit all den anderen Sachen?, will ich fragen. Elysias Gepäck? Sylvas Gepäck? Kommt es in den Müll, wird es ebenfalls verbrannt?

Doch kein Ton kommt über meine Lippen. Ich folge Isadora aus der Garderobe und während wir wieder den Gang mit dem weichen Teppich und den edlen weinroten Wänden entlanggehen und dann eine breite Treppe hinaufsteigen, plaudert sie munter drauflos, als wäre heute nichts Besonderes geschehen.

„Du hast richtig Glück gehabt", erzählt sie mir.

Glück, wiederhole ich im Geiste. Ein eigenartiges Wort.

„Wir haben nicht damit gerechnet, dass es noch eine Gewinnerin geben würde, weißt du?", fährt sie fort. „Alles ist auf fünfundzwanzig Teilnehmerinnen ausgerichtet, deswegen hat es auch ein bisschen länger gedauert, bis wir dich holen konnten, wir mussten erst dein Zimmer herrichten. Es ist das erste Mal in der Geschichte des Mitternachtsballs, dass sechsundzwanzig Spieler mitmachen, eine echte Sensation!"

„Spieler?", frage ich. Es ist das erste Mal seit der Katastrophe, dass ich meine Stimme wieder benutze; sie klingt rau und krächzend.

„Genau, die Mitternachtsspiele", sagt sie. „Du hast die große Gewinnerfeier verpasst, weil du ... nun ja, auf dem Ball geblieben bist, deswegen sage ich es dir jetzt: Herzlichen Glückwunsch! Du bist dabei!"

Sie bleibt stehen und strahlt mich an, als hätte ich den Hauptgewinn gezogen, bei was auch immer. Ich habe keine Ahnung, was ihre Worte bedeuten, und schaffe es nur, sie anzustarren. Ich bin nur noch müde, will nur noch schlafen, am besten tagelang.

Weil ich nicht reagiere, zuckt Isadora die Achseln und wir setzen unseren Weg wieder fort. Wir biegen um eine Ecke, dann schließlich bleiben wir vor einer weißen Tür stehen.

„So", sagt sie. „Hier ist es. Das ist dein Zimmer, hier wirst du über die Zeit der Spiele wohnen. Ich hoffe, es gefällt dir. Ruh dich gut aus, morgen geht es weiter. Weil heute ein anstrengender Tag war, dürft ihr aber ausschlafen." Sie zwinkert, als wäre all das ein riesengroßer Spaß – und vielleicht ist es das für sie ja auch. „Du hast einen Fernseher", erklärt sie mir noch. „Heute Nacht läuft die Wiederholung des Balls, falls du es dir ansehen willst. Ich empfehle aber, nicht zu lange zu machen, morgen gibt es zwar kein Spiel, aber ein paar Termine, unter anderem auch eure Interviews, da solltest du ausgeschlafen sein. Und es ist schon bald halb zwei!"

Sie wünscht mir eine gute Nacht und bugsiert mich mit einem sanften Schubs in mein neues Zimmer, verabschiedet sich und verschließt die Tür hinter sich.

Und dann bin ich allein.

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now