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„Sie haben fünf Minuten", informiert mich der Muskelprotz, der sich inzwischen als Mr Underwood vorgestellt hat. „Wir sind ohnehin schon knapp dran, der Echostrider geht in einer halben Stunde."

Galadrielle hat keinen Ton mehr gesagt, seit wir zu unserem Wagen zurückgegangen sind, doch das ist auch nicht nötig. Ich habe es auch so begriffen. Sie hat mein Los aus dem Müll gefischt und in den Topf geworfen, in der Hoffnung, sich als ich ausgeben zu können, sollte es gezogen werden. Das hätte vermutlich sogar funktioniert, wenn ich, wie üblich, heute Morgen zur Arbeit gegangen wäre. Aber das bin ich nicht, weil ich mir gestern Nachmittag den Magen verdorben habe.

Also war ich zuhause und konnte verhindern, dass sie sie mitnehmen. Nichts als Zufälle haben dazu geführt, dass jetzt nicht Galadrielle diejenige ist, die nach Celestria geht, sondern ich.

Wie betäubt schlüpfe ich im Bad aus dem Schlafanzug und ziehe stattdessen meine weiten grauen Stoffhosen und ein enganliegendes schwarzes Top an. Auf der Arbeit trage ich Grau für meine Show, doch inzwischen weiß ich die Farbe auch im Alltag zu schätzen – sie ist praktisch. Ich habe keine Lust, mich in Schale zu werfen. Wer weiß, was mich dort oben erwartet?

Galadrielle rümpft die Nase, als sie mich sieht. Wahrscheinlich denkt sie, dass es eine Verschwendung ist, in diesen Klamotten zum legendären Ball zu gehen, doch ich habe zu wenig Energie, um wütend auf sie zu sein. Um ehrlich zu sein, fühle ich im Moment überhaupt nichts.

Ich schnappe mir meinen Rucksack, in den ich meine wichtigsten Habseligkeiten, mein Asthmaspray, Waschzeug und ein paar Ersatzklamotten geworfen habe. Nach kurzer Überlegung habe ich auch ein schwarzes Abendkleid eingepackt. Es ist ziemlich schlicht, nichts Besonderes, aber mir ist auch klar, dass ich nicht in Alltagskleidung auf einen großen Ball gehen kann. Außerdem hat es Emeric genäht – ich nehme es als eine Art Glücksbringer mit.

Dann sehe ich mich noch einmal in unserer Wohnküche um. Das Licht der Außenlaternen scheint hinein und bricht sich in dem bunten Perlenvorhang, der die Küche vom Flur trennt. Rote, grüne und blaue Punkte werden auf die Wände geworfen.

Auf der Küchenzeile steht noch immer der Topf und obwohl es erst eine Stunde her ist, dass ich mit Galadrielle am Tisch saß und Tee getrunken habe, fühlt es sich plötzlich so an, als wäre das vor Tagen gewesen.

Meine Schwester sitzt nun wieder dort und sieht mich nicht mehr an. Stattdessen starrt sie aus dem Fenster. Ich versuche, ihren Gesichtsausdruck zu deuten. Schämt sie sich? Tut es ihr leid, was sie getan hat? Oder ist sie einfach nur enttäuscht, dass ihr Plan nicht aufgegangen ist? Irgendwie kann ich ihr nicht einmal richtig böse sein. Sie wollte mich nicht in diese Situation bringen, sondern sich nur einen eigenen Traum erfüllen. Einen dummen, dummen Traum.

Ich wende den Blick ab. „Und es gibt wirklich keine Möglichkeit, noch einmal neu auszulosen?", frage ich Mr Underwood, der ungeduldig im Türrahmen steht und in unserem Wagen merkwürdig deplatziert aussieht. „Ich möchte eigentlich nicht hingehen. Ich habe es mir anders überlegt." Meine Stimme klingt flehend und das ärgert mich.

Er schüttelt den Kopf. „Die Teilnahme am Ball ist verpflichtend", sagt er. „Das ist allgemein bekannt und auch in den Teilnahmebedingungen nachzulesen. Wer sich bewirbt, stimmt zu, dass er im Falle einer Auswahl auch verbindlich mitmacht."

Ich ringe mit mir. Am liebsten würde ich sagen, dass ich mich nicht beworben habe. Dass es Galadrielle war, die meinen Namen in den Topf geworfen hat, ohne mein Wissen und ohne meine Erlaubnis. Aber ich bringe es nicht über mich. Ich konnte es so hinstellen, als wäre das Ganze ein großes Missverständnis gewesen und auch wenn Mr Underwood mich mit hochgezogener Braue betrachtet und die Geschichte ganz offensichtlich nicht geglaubt hat, hat er sie dennoch nicht weiter hinterfragt. Und ich bin froh darum, denn die Wahrheit ist, dass Galadrielle vermutlich wegen Betrugs und Urkundenfälschung im Gefängnis landen würde, sollte ich die Wahrheit sagen.

Und auch wenn sie es vielleicht verdient hätte, ich schaffe es einfach nicht, sie zu verraten. Adira ist immer noch in der Stadt unterwegs, zum ersten Mal seit Wochen, weil es ihr endlich wieder besser geht. Also hat Galadrielle in diesem Augenblick nur mich. Ich bin für meine Geschwister mitverantwortlich, ich muss auf sie aufpassen, sie beschützen.

Und wenn das bedeutet, dass ich dafür auf diesen blöden Ball gehen muss, dann ist das eben so. Morgen kehre ich nach Tremoris zurück – denn ich werde garantiert nicht in Celestria bleiben, egal, wie schön der Himmel dort oben ist – und dann werde ich meiner Schwester ordentlich die Leviten lesen. Und Adira wird das vermutlich auch tun, wenn ich ihr erzähle, was passiert ist. Ich gehe davon aus, dass Galadrielle für den Rest der Ferien Hausarrest bekommen wird, und es geschähe ihr nur recht.

„In Ordnung", sage ich an die beiden Männer gewandt. „Und der Ball ist heute? Wann genau? Was passiert nun? Und wann geht es zurück?"

„Die Einzelheiten erfahren Sie auf der Fahrt", sagt Mr Stone, der Rothaarige. „Sie und die anderen Teilnehmerinnen werden etwa eine halbe Stunde im Echostrider verbringen, danach geht es in Celestria eine Stunde lang durch die Stadt, bis Sie den Palast erreichen. Begleitet werden Sie dabei von mehreren Tutoren, die Ihnen alles erklären werden, was Sie wissen müssen."

Ich nicke, auch wenn ich es ein wenig eigenartig finde, dass wir für einen Ball Tutoren haben. Eigentlich wirft diese Antwort mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Und dann, aus heiterem Himmel, schießen mir Tränen in die Augen. Ich kann mich nicht einmal richtig von Adira und Tristan verabschieden, weil sie nicht da sind. Und auch nicht von Emeric! Was wird er sagen, wenn er erfährt, dass ich zum Ball gegangen bin? Wo ich ihm doch erzählt habe, dass ich mich nicht beworben habe. Er wird denken, dass ich ihn belogen habe. Er wird mich hassen.

Ich wünschte, ich könnte es ihm erklären, doch nun ist meine Zeit abgelaufen.

„Wir müssen jetzt los", drängt Mr Underwood mit einem demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr.

Ich blinzle die Tränen zurück, straffe die Schultern und verabschiede mich von Galadrielle.

„Machs gut", sage ich leise. Und endlich sieht sie mich wieder an. Ihr Blick ist verschlossen, ich kann nicht erkennen, was in ihr vorgeht.

„Viel Spaß, Cinna", flüstert sie.

Ich nicke, doch etwas tief in meinem Inneren sagt mir, dass ich ganz sicher keinen Spaß dort oben haben werde. Im Gegenteil, ich werde die Sekunden zählen, bis ich endlich wieder nach Hause darf.

Während ich mit den beiden Männern unseren Wohnwagen verlasse, schleicht sich jedoch noch ein anderer Gedanke in mein Bewusstsein, eine winzige Hoffnung, die ich bis zu diesem Moment nie zugelassen habe: Was, wenn ich dort oben meinen Vater wieder treffe?

Cinder & Blood: The darker Side of MidnightWhere stories live. Discover now