09| scharlachorange

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Genovefa

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Genovefa

Die Schüler schienen meine schlechte Laune zu spüren, denn sie wichen mir regelrecht aus, als ich die Stufen nach unten raste. Auch wenn sie mir dabei ziemlich eindeutige Blicke zuwarfen, die wohl nicht besonders nett gemeint waren. Aber gut, das war nicht mein Problem. Eigene Probleme hatte ich selbst auch, zumindest ein großes. 

Die letzten paar Stufen sprang ich hinunter und kam unsanft wieder auf. Meine Sprunggelenke würden mir das ganz sicher übelnehmen. Andererseits juckte mich das in diesem Moment auch nicht sonderlich. Sprunggelenke hin oder her, ich musste aus der Schule raus und das so schnell wie möglich.

Die Seiteneingangstür, die nach draußen an die frische Luft führte, ließ sich genauso schwer aufstemmen wie sonst auch. Ich war mir ziemlich sicher, dass wir mit dieser Tür Probleme haben würden, wenn es einmal einen dringenden Notfall geben würde. Andererseits bezweifelte ich, dass es jemals zu so etwas kommen würde. 

Die kalte Luft, die nach Frühling roch, hieß mich sofort draußen willkommen. Eine frische Windbrise strich mir die Haare aus dem Gesicht und ich ließ die Eingangstür hinter mir zufallen. Alles in allem hätte es sogar ein schöner Tag sein können. Die Betonung lag dabei auf hätte. 

Hektisch kramte ich mein Handy hervor, das für alles verantwortlich war. Okay, nicht wirklich das Handy, sondern eher der Anruf, den ich vor wenigen Minuten erhalten hatte. 

Ein kurzer Blick auf meine Anrufliste zeigte mir, dass ich mir das alles nicht nur eingebildet hatte. Na, toll. 

Ich öffnete meine Kontakte und scrollte so lange nach unten, bis ich die Telefonnummer meines nervigen Bruders gefunden hatte. Nachdem ich sie ausgewählt hatte, wartete ich nur noch darauf, dass er abheben würde, und brachte in der Zwischenzeit mehr Abstand zwischen mich und die Schule. Auch wenn das hieß, dass ich dem Internat immer näherkam. Aber dort musste ich sowieso hin. 

„Hey Geni", ertönte auch schon seine vertraute Stimme an meinem Ohr. Nicht, dass ich sie sonderlich vermisst hätte. „Was gibt's?" 

Höchstwahrscheinlich wusste er nicht, was auf ihn zukam. Zumindest fiel mir das als einziger Grund ein, weshalb seine Stimme so sorgenfrei klang. Eigentlich hatte ich nicht wirklich Lust ihm seinen Tag zu vermiesen, aber was sein musste, musste sein. 

„Dir ist nicht zufälligerweise klar, welcher Tag heute ist, oder?", fragte ich ihn, um ihn auf die Probe zu stellen. Auch wenn ich die Antwort schon wusste. „Äh", machte er, was nicht sonderlich intelligent aus seinem Mund klang, „ähm...'n Dienstag?" 

Der kalte Windzug ließ mich langsam frösteln und ich starrte miesgelaunt zum Himmel empor, der mit Wolken bedeckt war. Mieses Märzwetter. 

„Wundert mich, dass du dir das gemerkt hast", meinte ich trocken, „ich hatte schon Angst, dass du heute in Naturwissenschaft wieder einmal nicht aufgepasst hast." 

Aufgrund des schlechten Wetters entschloss ich mich dazu meine Schritte zu beschleunigen, damit ich wenigstens so schnell wie möglich die Eingangshalle des Internates erreichen würde. 

Er schnaubte nur abfällig. „Dein Ernst? So wie das aussah, hatte ich eher Sorgen, dass du nicht aufgepasst hast. Aber ich hoffe, dass du doch mitgemacht hast, denn wer soll mir sonst den Stoff erklären? Abgesehen davon war ich heute zumindest in Geschichte motiviert." 

Ich musste belustigt schmunzeln. „Aber auch nur, weil dich die Lehrerin auf dem Kieker hatte. Ansonsten hättest du wieder keinen Finger gerührt." 

Er seufzte theatralisch und ich hatte schon fast den Eindruck er würde direkt neben mir stehen. „Was du nur immer von mir denkst Schwesterherz. Ts, ts, ts." 

Geschickt wich ich einigen vorbeikommenden Schülern aus und bog um die Ecke. „Was auch immer ich über dich denke-" Gerade, als ich die Internatseingangstür aufzog, wurde ich unhöflich mitten im Satz unterbrochen. „-ist vollkommen richtig. Valentin, sieh's ein, deine bessere Hälfte weiß genau wovon sie redet." 

Ich hielt für einen Moment mitten in der Bewegung inne. War ja klar gewesen, dass Ethan sich wieder einmal einmischen musste. Allerdings musste ich schon zugeben, dass mir seine Sichtweise ziemlich gut gefiel. Ich war definitiv Valentins bessere Hälfte. Aber gut, das hatten Zwillinge vermutlich so an sich. 

Die Luft in der Eingangshalle war auf jeden Fall wärmer als die Luft draußen, auch wenn es draußen definitiv besser roch. Alles war besser als irgendein Chlorreiniger. Ich versuchte die seltsamen Farbkombinationen aus hellviolett, dreckigem Grün und undefinierbarem Orange zu ignorieren und näherte mich mit großen Schritten der Treppe, die nach oben führte. Wer auch immer das Internat eingerichtet hatte, er hatte es nicht so mit Ästhetik gehabt. Das bewiesen auch die seltsamen Möbelstücke, die wohl einladend auf Besucher wirken sollten, aber für mich eher das Gegenteil bewirkten. Nämlich dringend zu flüchten. 

Mir fiel ein, dass ich meinen Lieblingsbruder schon seit einer ganzen Weile ignoriert hatte. Normalerweise war er nicht so leicht zu ignorieren. „Bin ganz deiner Meinung, Ethan", erwiderte ich deswegen, damit ich immerhin etwas entgegnete. „Was ich aber eigentlich sagen wollte, heute ist dieses Familientreffen. Wird garantiert ätzend." 

Am anderen Ende herrschte für einen Moment Stille und ich war mir ziemlich sicher, dass mein vergesslicher Zwillingsbruder gerade herauszufinden versuchte, von welchem Familientreffen ich überhaupt redete. 

„Scheiße", hörte ich ihn dann fluchen. „Bitte sag mir nicht, dass es um die Geburtstagsfeier von Tante Ludmilla geht."


[846 Wörter]

Why not...Where stories live. Discover now