Tag 73 // Tag 71

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Tag 73

Am nächsten Tag begegnete ich Nathalie auf dem Gang. Sie lächelte mich an, ging aber an mir vorbei. Ich machte mir nichts daraus. Sie hatte mir ihr Geheimnis anvertraut und jetzt brauchte sie Zeit, um damit klar zu kommen, dass sie nicht mehr die Einzige war, die Bescheid wusste.

In der Mittagspause saß ich wieder neben ihr. Logan schwafelte irgendetwas und als wir ihm von den Golden Girls erzählten, lachte er, bis ihm die Tränen kamen. Nathalie sah mich schließlich an und stieß mich leicht mit der Schulter an.

»Danke, Jo«, flüsterte sie. Ich lächelte nur und drückte ihre Hand. Mehr musste nicht gesagt werden.

Auf der einen Seite fühlte ich mich allerdings auch schlecht. Nathalie hatte ihre tiefsten Gedanken mit mir geteilt und ich verschwieg ihr immer noch, dass ich so gut wie tot war. Aber sie war dazu bereit gewesen und ich war es noch nicht. Ich hatte noch zu viel Angst davor.

Nach der Mittagspause saß ich in meinem Lieblingskurs wieder neben Kyle. Mrs Dickinson redete und redete und ich fühlte mich, als wäre ich in einer riesigen Seifenblase, als wären meine Ohren mit Watte verstopft und ich würde alles nur sehr verschwommen wahrnehmen.

Ich sah zu Kyle und plötzlich tat ich etwas, was ich bei klarem Verstand nie getan hätte. Ich sprach ihn an.

»Hey Kyle«, sagte ich und lächelte dumm. Himmel, ich hatte wahrscheinlich gerade einen Schlaganfall.

Kyles Kopf drehte sich in meine Richtung. Verwirrt zog er die Augenbrauen zusammen.

»Hi Jo.«

»Wir sollten an unserem Projekt weiterarbeiten«, verkündete ich.

Kyle nickte. »Unsere Charakterisierungen oder deine Liste?«

»Beides«, antwortete ich.

»Okay. Nach der Schule?«, fragte er, die Augenbrauen immer noch zusammengezogen. Jetzt nickte ich und wandte mich ab. Dabei verzog ich mein Gesicht und musste dem Drang widerstehen, mir gegen die Stirn zu klatschten. Was zur Hölle war los mit mir?

Nach der Schule ging ich zu meinem Wagen. Kyle lehnte dagegen, die Arme verschränkt, und wartete auf mich. Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen und lief auf ihn zu.

»Was?«, blaffte ich. Irgendwas stimmte nicht. Kyle sah mich an.

»Ich kann doch nicht. Meine Mum hatte einen Notfall auf Arbeit und deshalb muss ich mich um meine Schwester kümmern«, sagte er, von meinem Ton ließ er sich nicht beirren.

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich fassungslos. »Das ist die schlechteste Ausrede aller Zeiten!«

»Das ist keine Ausrede, Jo. Das ist mein Ernst«, verteidigte er sich. Zur Antwort zog ich nur spöttisch eine Augenbraue hoch. Kyle lachte verächtlich und schüttelte den Kopf. Dann sah er mich mit vorgestrecktem Kinn an.

»Willst du mitkommen?«

Und genau deshalb stand ich jetzt mit Kyle im Kindergarten, umringt von lauter Vierjährigen. Ein kleines Mädchen mit blonden Haaren kam angerannt und krallte sich in das Bein von Kyle.

»Kylie!«, brüllte sie. Ich sah Kyle an und grinste. Er verdrehte nur die Augen und hob die Kleine hoch. Dann beäugte sie mich. »Wer ist das?«

»Das ist Jo. Na, Callie? Bereit zu gehen?«, fragte er säuselnd. Seine Schwester schüttelte den Kopf.

»Auch nicht, wenn ich dir ein Happy Meal kaufe?«, versuchte er es weiter. Jetzt grinste die Kleine schelmisch.

»Zwei!« Kyle lachte.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt