Tag 70 // Tag 69

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Tag 70

Früher hatte ich immer geglaubt, es gab ein Leben vor dem Tumor und ein Leben mit dem Tumor. Wenn ich jetzt auf mein Leben zurückblickte, unterteilte ich es in das Leben vor der Nachricht und das Leben nach der Nachricht. Denn jetzt würde sich alles verändern.

Es war mittlerweile nach Mitternacht. Die Minuten krochen dahin und Kyle Thompson starrte mich immer noch an, als hätte ich ihm einen Heiratsantrag gemacht.

»Sterben?«, stieß er fassungslos aus. Ich nickte. Er schüttelte den Kopf und blinzelte. »Wieso?«, rief er. Ich zuckte die Schultern.

»Ich habe einen Tumor im Kopf, der inoperabel ist. Ein Glioblastom.«

»Seit wann weißt du es?«

»Seit dem letzten Schuljahr«, flüsterte ich.

»Als du verschwunden bist«, sagte er tonlos. Kyle fuhr sich über das Gesicht. »Als du zu Jo wurdest.« Er holte tief Luft.

»Weiß die Schule davon?«, fragte er und ließ sich auf eine Bierbank plumpsen. Ich lächelte traurig.

»Nur der Direktor. Ansonsten meine Familie, mein Arzt und ja, meine Therapeutin.« Beim letzten Wort schoss Kyles Kopf wieder in die Höhe.

»Was?«

»Professionelle Sterbebegleitung. Das war ein Wunsch meiner Mutter und ich erfülle ihr gern diesen Wunsch. Es soll gegen die Gelegenheitsdepression helfen. Und gegen die Halluzinationen«, erklärte ich und ließ mich auf der Bank ihm gegenüber nieder.

»Ich - Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gestand er.

»Du musst nichts sagen.«

»Du hast also Halluzinationen?«, fragte er und runzelte die Stirn. Ich lachte hart.

»Ich sehe einen Jungen, der nicht echt ist. Er sagt, er ist der Tod. Der moderne Sensenmann, sozusagen.«

»Ist er hier?«, fragte Kyle leise und sah sich um.

»Nein«, murmelte ich.

»Und was ich mit der Depression?« Kyle flüsterte, als könnte er diesen zerbrechlichen Moment mit Lautstärke zerstören.

»Ich habe sie, weil ich sterbe. Wenn alles zu viel wird und mich überkommt. Wenn mir klar wird, dass es bald vorbei ist und ich dann nicht mehr bin. Wenn ich realisiere, wie wenig ich gelebt habe.«

»Deshalb hast du diese Liste, nicht wahr?«, stellte Kyle fest. »Du willst diese Dinge nicht tun, bevor du zwanzig bist, sondern bevor du stirbst.« Dann rauschte ihm anscheinend etwas anderes durch den Kopf und er sah mich erschrocken an.

»Wie lange?« Ich presste die Lippen zusammen und schlug die Augen nieder.

»Etwas weniger als drei Monate«, krächzte ich. Es schnürte mir die Kehle zu, als Kyle fluchte. Dann sagte eine ganze Weile niemand von uns etwas. Irgendwann streckte ich mich auf der Bank aus und Kyle starrte nur so vor sich hin.

»Wie fühlt es sich an. Zu wissen, dass man stirbt, meine ich«, sagte er plötzlich. Ich sah in den schwarzen Himmel, als ich antwortete.

»Als ich es realisiert habe, vollkommen verstanden habe, da war ich wütend. Es war nicht fair. Ich wünschte mir mehr Zeit. Zeit zu leben und verrückte Dinge zu tun, aber plötzlich war ich dazu nicht mehr in der Lage. Es hatte buchstäblich mein letztes Stündlein geschlagen.

Manchmal versuche ich mich, dagegen zu wehren, aber ich weiß, dass es sinnlos ist. Und manchmal, an den schlechten Tagen, bricht es über mir herein wie eine Flutwelle und ich versinke in Lethargie.«

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt