Tag 18 // Tag 17

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Tag 18

Nachdem das Wochenende vorbei war, hing ich wieder meinen Gedanken zu Hause nach. Ich sah mir weitere Serien an und verbrachte meine Abende zusammen mit meinen Eltern auf der Couch. Die Hospizflyer ließ ich ungelesen auf meinem Schreibtisch liegen. Ich spürte, dass es mir schlechter ging. Eine Krankheit ist ein schleichender Prozess, aber es gibt Eckpunkte im Alltag, an denen man festmachen kann, wie weit fortgeschritten sie schon ist.

Ich merkte es an meinem Gewicht, das zunehmend weniger wurde. Ich sah es an meinen Blutzuckerwerten, die schlechter wurden, weil meine Bauchspeicheldrüse den Geist aufgab. Ich sah es an dem Berg Tabletten, der immer größer wurde, weil die Ärzte versuchten, die schwache Leistung meiner Organe mit Chemikalien aufzuwiegen. Ich sah es an Mums Blick, der immer trauriger wurde, wenn sie dachte, ich bemerke es nicht. Ich sah es an meinen Wünschen, die immer einfacher wurden, die ich aber trotzdem nie erfüllt bekommen würde. Aber vor allem sah ich es an der Zeit, die verrann und die niemand aufhalten konnte. Auch Sterben war ein schleichender Prozess.

Heute war wieder Mittwoch und so stand ich wieder vor der Tür zur Praxis von Dr. Della Bryson. Ich wusste nicht, wann ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Ich hatte ihr Einiges zu erzählen.

Die Dame am Empfang lächelte mich freundlich an und sagte mir, dass ich gleich zu meiner Therapeutin könne. Also klopfte ich an ihr Behandlungszimmer und trat ein.

»Hallo, Jo«, begrüßte sie mich. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch und ordnete einige Unterlagen. Dann nahm sie ihr Klemmbrett und nahm auf dem Stuhl gegenüber des Sofas Platz. Ich setzte mich zaghaft auf das Sofa und sah mich um. Irgendwie hatte ich die Einrichtung noch nie genau betrachtet. Die großen Fenster, die so typisch für Altbauhäuser waren. Die Sonne, die hereinschien und alles in ein goldenes Licht tauchte. Die hellen Gardinen vor dem Fenster. Die mintgrünen Wände und die Landschaftsfotografien, die die Wände säumten. Ich betrachtete den Schreibtisch, der rustikal wirkte und genau zum Arbeiten gemacht schien.

Dann ließ ich den Blick zu meiner Therapeutin schweifen, die mich ruhig beobachtete. In diesem Moment wurde mir klar, wie dankbar ich war. Anfangs hatte ich die Stunden gehasst, aber mittlerweile war mit klar, wie sehr es mir geholfen hatte, mit jemandem zu reden, der nicht involviert war. Der sich meine Sorgen eine Stunde lang anhörte und dann nach Hause ging und seinen Kindern Nudeln kochte. Als würde man eine Serie stoppen und die nächste Episode vertagen.

Ich hatte so viel Hass in mir gehabt, als ich die Therapie begonnen hatte. Hass auf die Welt, auf meine Eltern, auf meinen Arzt, auf mich. Ich hatte meine Therapeutin gehasst und die Mittwoche, die ich hier verbringen musste. Ich hatte es gehasst, nicht ordentlich essen zu können, Tabletten zu schlucken und keine Zukunft zu haben. Ich hatte es gehasst, krank zu sein, voller Narben und behaftet mit dem ekligen Geruch des Krankenhauses. Ich hatte es gehasst, nicht normal zu sein. Mittlerweile war ich nicht mehr voller Hass, sondern voller Dankbarkeit.

Meine Therapeutin allerdings hatte meinen Hass immer abbekommen. Und während ich hier saß und der Frau in die Augen blickte, die sich meine wütenden Worte immer angehört und über sich ergehen lassen hat, schämte ich mich.

»Es tut mir leid«, sagte ich also. Dr. Della Bryson erwiderte nichts, sondern lächelte nur kurz. Sie wartete ab, wie immer.

»Es tut mir leid, dass ich so unausstehlich war. So voller Hass. Es tut mir leid, dass ich das an Ihnen ausgelassen habe. Das war nicht richtig.« Meine Therapeutin nickte kurz.

»Das ist völlig verständlich, Jo«, erwiderte sie ruhig. Ich schüttelte den Kopf.

»Nein, ich hab mich wie ein richtiges Miststück verhalten. Todkrank zu sein, ist scheiße. Und das gibt einem eine Menge Freifahrtsscheine. Aber es ist keine Entschuldigung dafür, andere mit Füßen zu treten. Das habe ich nicht nur mit Ihnen gemacht. Auch mit meinen Eltern bin ich so umgesprungen. Ich habe meiner besten Freundin nicht erzählt, dass ich sterben werde und den Jungen, den ich liebe, habe ich erpresst, damit er mir hilft, zu leben«, erklärte ich mich. Wieder nickte Dr. Della Bryson nur. Früher konnte ich es nicht ausstehen, wenn sie immer die Fassung bewahrt hatte. Jetzt war ich froh, dass sie mich so nahm, wie ich war.

The Bucket ListWo Geschichten leben. Entdecke jetzt