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Gerade stehe ich unter der Dusche, als es klingelt. Schnell wickle ich mir ein Handtuch um meinen nassen Körper. Das Wasser tropft auf die weißen Fliesen des Bades und auch auf meinem Teppich im Zimmer.

Ich mache die Zimmertür auf und gerade, als ich die Treppen runter gehen will, um die Haustür zu öffnen, höre ich, wie diese geschlossen wird.

Woher zur Hölle hat Primes einen Schlüssel? Es kann niemand anders sein als Primes, da Helena und Mandy noch im Urlaub sind, und Claire und Matthew in den Flitterwochen.

Nur, weil er beim FBI arbeitet, denkt er, dass er alles machen kann, wozu ihm gerade der Sinn ist.

Nun, ich will dich ja nicht nerven, aber anscheinend kann er alles machen, was er will.

So, jetzt kriegt er erstmal eine Ansprache. »Du kannst doch nicht einfach so –«, fange ich an, halte aber sofort wieder inne.

Er grinst mich an.

Doch es ist nicht Primes.

Geschockt und nicht in der Lage, etwas zu sagen, höre ich ihn. Diesen verdammten Spitznamen, den ich über alles hasse.

»May.«

Mein Körper zittert bis in die Knochen, mein Gehirn scheint sich ausgeschaltet zu haben, und mein Mund öffnet sich nicht einmal für einen Schrei. Verzweifelt versuche ich, mich am
Treppengeländer festzuhalten, meine Knie drohen einzuknicken.

Scheiße. Was soll ich machen?

Langsam kommt er auf die Stufen zu. Mir quellen Tränen
aus den Augen. Rückwärts mache ich ein paar Schritte, bis ich
etwas Hartes hinten an meinen Oberschenkeln spüre. Der kleine
Glastisch, der im Flur steht.

Er steigt die Stufen hoch, bis nur noch ein paar übrigbleiben. Vollkommen perplex stehe ich da, kann mich kein bisschen
bewegen. Ich müsste weglaufen, schreien, doch ich kann nicht. Wie es früher auch immer war, bekomme ich nichts mit. Kann nichts spüren, nichts wirklich wahrnehmen, bis er meinen Arm fest in seiner Hand hat. Dann erst bin ich wieder im Hier und Jetzt.

Ich spüre alles. Die Angst. Seinen Griff. Den Schmerz. Seine Finger auf meiner Haut. Die Angst.

Er greift nach hinten und zieht etwas aus seinem Hosenbund heraus. Im ersten Moment sehe ich nichts, denn die Tränen verschwimmen meine Sicht. Dann, nach ein paarmal blinzeln,
erkenne ich, was das in seiner Hand ist.

Eine Waffe.

Panik überkommt mich, doch ich kann mich trotzdem keinen Millimeter bewegen.

»May, May, May.«

Mein Körper vibriert noch mehr, als er sich ein wenig vorlehnt, um mir näher zu kommen.

»Ich habe dich so vermisst«, flüstert er mir ins Ohr.

Ohne wirklich nachzudenken, greife ich nach hinten, nehme die Porzellanvase, die auf dem kleinen Glastisch steht in die Hand und schmettere sie ihm an den Kopf.

Er lässt meinen Arm los, hält sich stattdessen den Kopf,
während er sich runterbeugt und laut aufschreit.

Lauf, Kind. Lauf!

Ich tue, was mir The Voice sagt und laufe.

»Du kleines Miststück!«, höre ich ihn noch fluchen.

Ich renne in mein Zimmer, schließe die Tür ab und knie mich neben das Bett. Mein Körper erschaudert. Was soll ich bloß tun? Er wird mich bestimmt töten, wenn nicht sogar schlimmer.

Die Karte, Mace!

Schluchzend suche ich Primes' Visitenkarte.

Scheiße, wo ist sie? Ich gerate noch mehr in Panik, als ich sie nicht finde. Doch dann erinnere ich mich, dass ich sie zuletzt in meine Jeanstasche gesteckt habe. Ich suche die Jeans in meinem Kleiderschrank und ziehe die schwarze Karte heraus. Handy. Ich brauche mein Handy. Ich sehe mich kurz um und entdecke es auf dem Nachtisch. Mit zitternden Knien laufe ich zu meinem
Nachtisch und kurz bevor ich ankomme, falle ich hin. Nach dem Handy streckend, versuche ich, Primes' Nummer einzutippen, als ich es in der Hand habe.

Ich schrecke hoch, als er gegen die Tür hämmert.

»May, mach die Tür auf!«

Panisch widme ich mich wieder dem Handy in meiner zitternden Hand.

»Primes«, meldet er sich am Apparat.

»A-Agent Primes, ich bin's. Mac –«, meine Stimme bricht.

»Macey, was ist los?«, fragt er stürmisch, als er mich schluch-

zen hört.

»Er – Er ist hier. Mein – Mein –«

Er unterbricht mich. »Bist du zuhause?«, fragt er, nun ebenfalls in Panik versetzt.

»Ja«, mehr bekomme ich nicht heraus, doch das ist auch nicht nötig, denn Primes legt auf.

»May, nun sei doch nicht so kindisch«, sagt er, während er mit der Waffe gegen die Tür klopft. Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Auf allen vieren krabble ich in meinen offenen Kleiderschrank und schließe die Schiebetür von innen. Ich schlinge die Arme um meine Beine und verstecke mich in einer Ecke des Schrankes. Die Tränen strömen literweise aus meinen Augen. Ich versuche, leise zu sein, doch mein Schluchzen ermöglicht es mir nicht. Mit beiden Händen halte ich mir den Mund zu und drücke, so fest ich kann, darauf.

»Maaaay«, sagt er mit einer Melodie, die mich abermals
erschaudern lässt.

»Nein, nein. Lass mich in Ruhe. Lass mich in Ruhe«, murmle ich.

Dann sagt er es noch einmal und zieht es in die Länge. Ich
halte seine Stimme nicht aus und halte mir statt meines Mundes meine Ohren zu.

Stille.

Nach einigen Minuten höre ich ein dumpfes Geräusch, lege meine Hände von den Ohren ab und höre, wie der Glastisch
zerbricht.

Dann Schritte im Flur.

Die Türklinke zu meinem Schlafzimmer wird mehrmals betä-

tigt. Meine Atemzüge werden schneller.

Ich werde sterben. Ich will noch nicht sterben.

Die Schlafzimmertür wird aufgebrochen. Ruckartig stelle ich mich auf die Beine und drücke meinen Körper soweit es geht
gegen die Wand des Schrankes. Ich halte mir die Hände vor den Mund, um keinen Mucks von mir geben zu können.

Schnelle, feste Schritte kommen auf mich zu.

Der Schrank wird geöffnet »Macey.«

Das ist nicht Er.

Ich sehe hoch. »Primes«, schluchze ich erleichtert. »Er –  Er hat eine Waffe und – und er hat auf mich gezielt –«, die Worte
kommen kaum aus meinen Mund.

»Alles ist gut. Er kann dir nichts mehr antun.« Er zieht sein
Jackett aus und stülpt es mir über die Schultern, da ich nur in ein Handtuch gewickelt bin. Dann hilft er mir aus dem Schrank, doch ich kann vor Zittern kaum gehen, meine Beine knicken ein.

Er fängt mich kurz vor dem Umfallen und zieht mich wieder rauf. Der eine Arm umschlingt meine Taille und auf den anderen stütze ich mich. Wir gehen langsam aus dem Schlafzimmer, aber ich bleibe geschockt stehen, als ich ihn sehe.

Mein Herz rast.

Er liegt da, reglos neben dem kaputten und mit Blut beschmierten Glastisch.

»Ist er – Ist er tot?«

Primes antwortet kurz und knapp: »Nein.«

Er liegt da. Jetzt liegt er nur da, wie ein Fisch am Ufer, der
aufgehört hat, zu zappeln.

Mein Gesicht ist ganz nass von den Tränen und dem Schweiß.

Primes geht um ihn herum und zieht mich mit.

Ich blicke noch einmal zurück, um ihn zu sehen, meinen
Vergewaltiger.

Blue in my HeartWhere stories live. Discover now