#54 ..Mum

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Pov Yoongi

"Du sitzt nun seit vier Stunden in der genau gleichen Position und hast dich nur bewegt, um dir die Decke weiter über die Schultern zu ziehen." Merkte Taehyung an und ich blickte zu meinem Engel, der zusammengekauert auf der anderen Seite des Sofas saß. Seine Augen starrten seit Ewigkeiten ins Leere, als würde ihn der Fernseher gar nicht interessieren und sich vor seinen Augen ein ganz anderer Film abspielen. Ich hätte ihn ja in den Arm genommen, würde ihn halten wollen, jedoch hatte er mich weggestoßen. Sowie jeden. Niemand sollte ihn anfassen und wenn es zu Körperkontakt kam, zuckte er zusammen. Er hatte seit vier Stunden nichts gegessen, seine Augen nur für's Blinzeln geschlossen und seinen Mund nicht geöffnet, nur, um immer wieder die selben Worte zu wiederholen,

"Ich habe meine Mutter gehen gelassen.."

"Wie schon gesagt, sie wollte von sich aus gehen, Jimin." Sagte Jin, so wie er es schon die Male davor getan hatte. Und zum ersten mal schoss Jimins Blick in die Richtung des älteren, seine Geschichtszüge verzogen sich wütend, "Wenn ich ins Bad renne, um mich zu schneiden, lasst ihr mich dann gehen, weil ich es ja von mir aus wollte?!" Er schrie und starrte jeden von uns an, außer mich. Mich ließ er außen vor. "Nein!" Beantwortete er seine Frage selbst und zog sich die Decke wimmernd über den ganzen Kopf.

Mittlerweile war auch Namjoon wieder nach Hause gekommen, so saßen wir alle im Wohnzimmer. Jin hatte ihm alles erzählt, er hatte wohlmöglich die Hoffnung, dass Namjoon etwas mit Worten ausrichten könnte. Aber Jimin hörte niemandem zu, wie gesagt, er hatte alle Sätze ignoriert, bis gerade eben. Und ich saß daneben und schwieg. Ich hatte zu sehr Angst, ihn ein weiteres mal zu verletzen. Und jetzt, wo ich noch ein wenig mehr über seine Vergangenheit erfahren hatte, fühlte ich mich schuldiger als zuvor. Ich hatte ihn monatelang nur ausgenutzt für Sex und ihm somit nur noch einen Grund mehr, oder sogar den einzigen, dafür gegeben, sich selbst zu verletzen.
Ich war genauso wenig wert, wie seine Mutter.
Ich war nur ein weiterer Mensch, der ihm Schaden zufügen sollte.

"Wovor hast du denn Angst?" Begann Namjoon, "Die Jahre zuvor hast du dich immer nur darauf konzentriert, deine Familie zu vergessen, warum bereust du es jetzt, deine Mutter diesmal nicht bei dir behalten zu haben?"
Man hörte Jimin nur weinen, sollte sein ganzes Leben daraus bestehen? Ich wollte ihn glücklich machen, ihm wieder einen neuen Ort zeigen, ihn ablenken, doch das würde er mir nun verübeln. Er wollte nicht abgelenkt werden, wollte die Emotionen nicht wieder verdrängen.
"Weil sie gebrochen war! Sie war am Ende, hat das niemand gesehen?" Schrie er, immer noch in die Wolldecke gewickelt.

Ich sah gedankenverloren zur Decke hinauf. Vor meinen Augen spielten sich Bilder ab, die mein Kopf selbst malte. Diese Bilder entstanden aus Angst, einem schlechten Gewissen und Mitleid.
Ich stellte mir vor, wie Jimin das Haus seiner Eltern betrat, damals, vor ein paar Jahren. Wie er vorerst schwieg und seine Schuhe sowie Jacke auszog, dann mit seinem Rucksack auf den Schultern in den abgedunkelten Raum trat, den man als Wohnzimmer bezeichnen konnte. Wie auf der schwarzen Ledercouch seine Mutter vor einem Stapel Papier saß und ihm außer einem knappen "Wie war dein Tag?", wenig Beachtung schenkte. Vor meinen Augen lief die Szene ab, wie Jimin seinen Rucksack absetzte, die zerknitterte Arbeit herauskramte und sie mit zitternden Händen über den Glastisch schob. Wie er nervös auf seiner Lippe herumkaute, während die dünnen Hände der Mutter nach dem Papier griffen. Und wie er anschließend zusammenzuckte, als sie seinen Namen tadelnd ausrief. Sie schrie ihn an, stand auf, trat vor ihren Sohn, der schon längst zu Boden sah und den Kopf eingezogen hatte.
Und sie befahl ihm, sie anzusehen.
Und sie schlug ihn.
Mit der flachen Hand auf die Wange. So sehr, dass es dem Jungen weh tat. Sie fragte ihn, was er mit seinem Leben anfangen wollte, wohin das alles führen sollte. Sie sagte ihm, dass sie ihn deswegen nie ihren Sohn nennen kann, er hätte sie nie stolz gemacht. Ich sah, wie Jimin sich entschuldigte, tausende Male, als wäre es der einzige Satz, den er kannte. Oder sollte ich sagen, als wäre es der einzige Satz, den er gelernt hatte?
Seine Mutter schupste ihn in Richtung Flur, schmiss ihm seinen Rucksack hinterher, sagte, er sollte sein Zimmer bis zum Abend nicht mehr verlassen.
Und sie warnte ihn, er sollte abwarten, bis sein Vater nach Hause kam.
Ich konnte sehen, wie die Angst in Jimins Augen stieg, wie er in sein Zimmer stolperte und die Tür schloss. Wie er dort weinte, einsam, verlassen, verloren und hilflos. Die Fragen seiner Mutter fragte er nun sich selbst, wie sollte es weitergehen? Wohin führte das? Was sollte er mit seinem Leben anfangen?
Und gebrochen tastete er nach seinem Rucksack, zog seine Hausaufgaben heraus und bearbeitete diese an Ort und Stelle, auf dem Boden. Er musste fertig sein, bevor sein Vater nach Hause kam.

「 angel 」 - yoonminWhere stories live. Discover now