Prolog ***überarbeitet***

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Wie ich diesen Adrenalinkick liebeWenn das Herz so sehr rast, als wolle es jeden Moment aus dem Brustkorb springen. Wenn das Blut in den Adern so kocht, dass die Hitze bis in den Kopf steigt und eine leuchtende Röte auf die Wangen streicht, von der im Dunkel der Nacht jedoch nur ein warmes Flimmern zurückbleibt. Wenn das Rauschen in den Ohren die Geräusche der Umgebung verblassen lässt und im Takt der kurzen schnellen Atemstöße stetig an- und abschwillt. Dazu das Kribbeln in den Fingern, die das Bild, dass sich mir bietet, befühlen wollen, als könnten sie dessen Wirklichkeit erst dann völlig erfassen. Das Bild ist das eines Mädchens, das braungelockt auf ihrem Bett sitzt, in ihren Händen ein Buch, umrahmt von den dunklen Streben des Fensters, schützend hinter Glas, das fremde Hände von diesem einzigartigen Kunstwerk fernhalten soll. Einzelne Strähnen fallen ihr immer wieder in das fahlweiße Gesicht, mit spitzen Fingern streicht sie diese jedes Mal erneut hinter ihr Ohr, jedes Mal bahnt sich ihr Haar erneut einen Weg zurück, um sich an die samtweiche Haut ihrer Wange zu legen. Unwillkürlich zuckt meine Hand nach vorne. Wie gerne würde ich meine Finger auf die Stelle legen, an der die Strähne ihr Gesicht umspielt. Mein ganzer Körper lehnt sich nach vorne, ihr entgegen, und entlockt dabei dem Ast, auf dem ich sitze, ein kummervolles Ächzen. Das Mädchen im Bild sieht von ihrem Buch auf, das Geräusch des Baumes muss bis in ihre Welt hinter dem Glas vorgedrungen sein. Ich ducke mich wieder tiefer in die Dunkelheit hinein, um nicht von ihr gesehen zu werden. Ich fühle mich von ihren grünen Augen beinahe durchdrungen, ich bin mir nahezu sicher, dass sie mich gesehen haben muss. Doch nach endlosen Sekunden des Schreckens wendet sie sich wieder von dem Fenster ab, legt das Buch auf den Nachttisch und löscht das Licht. Auch bei ihr ist es Nacht geworden, die tiefe Schwärze, in der ich sitze, ist durch das Glas ins Bild gekrochen und versteckt das Mädchen vor meinen Blicken.

Während ich meinen Hochsitz zwischen den Ästen der Kastanie verließ und mich langsam auf den Heimweg machte, versuchte ich mir das Bild einzubrennen, braune Locken um weiße Haut, daraus hervorstechend das leuchtende Grün ihrer Augen, von mir getrennt durch Holz und Glas. Seit zwei Wochen saß ich jede Nacht auf diesem Ast des Baumes, der mit seinen langen Armen fast an der Scheibe zu ihrem Zimmer kratzte, nicht etwa, um mich an ihrem Körper zu ergötzen, der oftmals drahtig und verdreht zwischen den Laken lag, das Gesicht immer gespiegelt in den Buchstaben eines Romans. Zwar wandte ich meinen Blick nicht ab, wenn sie sich aus den staubigen Hüllen des Tages schälte, um sich für die Ruhe der Nacht von weiten und bequemen Stoffen umarmen zu lassen, in denen sie sich im Rhythmus ihres langsamen Atems in den Schlaf gleiten ließ. Doch vielmehr ging es mir um die Nähe, die ich zu ihr hatte, die Vertrautheit, die nur ich spüren konnte, die mir jedoch so viel Mut und Zuversicht gab. Die gerade wegen ihrer Einseitigkeit so viel stärker zu sein schien, gleichzeitig auch so zerbrechlich und innerhalb eines Augenblickes für immer zerstört, sollte sie mich nur eines Abends doch zwischen den noch bekleideten Ästen der mächtigen Kastanie sehen. Und auch oder vielleicht gerade weil sie mich in den letzten Nächten schon mehrfach beinahe entdeckt hätte, konnte ich nicht aufhören immer wieder den Stamm hinaufzusteigen und den Blick auf das Kunstwerk hinter dem Glas zu heften. Denn wie gesagt, ich liebte das Adrenalin. Es stellte einen wunderbaren Ausgleich zu meinem immergleichen, sterbenslangweiligen Alltag dar. Es ging um den Kick, nicht erwischt zu werden, den Thrill des Verbotenen. Ich hatte immer gerne in fremde Häuser gesehen, erst im Vorübergehen, nur mit flüchtigen Blicken die Einrichtung abscannend, eventuell einen Bewohner erhaschend. Irgendwann war ich stehengeblieben, hatte mir ein paar Minuten Einblick in fremde Leben verschafft, eigene kleine Ökosysteme, manche mehr, manche weniger intakt. Irgendwann stand ich dann vor so einer Szenerie, ich war so vertieft in den Stummfilm, der sich auf der gläsernen Leinwand abspielte, als die Haustüre geöffnet wurde und ich instinktiv in der Hecke Zuflucht vor der Konfrontation mit den Beobachteten gesucht hatte. Zwar hatte mich keiner gesehen, aber der Moment, in dem die Protagonistin des eben beendeten Kammerspiels nur wenige Zentimeter entfernt an mir vorbei an den Briefkasten ging, spürte ich das erste Mal seit langem wieder lebendige Aufregung in mir. Danach hatte ich das Bild, vor dem ich seit Tagen saß, in mein Museum der Intimität hinzugefügt, mehr oder weniger zufällig, vielleicht geleitet von etwas, das manche Schicksal nennen. 

Doch nach der anfänglichen Ekstase, die das neuartige Abenteuer mit sich brachte, stellte sich auch hierbei nach und nach eine gewisse Monotonie ein. Ich wollte nicht immer nur Betrachter sein, ich wollte näher an das Bild, ich wollte in das Bild. Ich wollte das Mädchen wissen lassen, dass es mich gibt. 

StalkerWhere stories live. Discover now