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Ich hab diese Geschichte angefangen, während ich das Lied "by Now" von Will Jay gehört habe, und irgendwie hat es mich sofort in diese warme, ruhige Atmosphäre eines heißen Sommer-Nachmittags befördert. Egal welches Kapitel ich hier geschrieben habe, ich hatte stetig die Melodie dieses Liedes im Kopf und konnte auch nicht aufhören es beim Schreiben zu hören.

Vielleicht geht es euch bei dem Lied ganz anders, vielleicht aber auch genauso. Ich wollte es mit euch teilen, um euch zumindest die Möglichkeit zu geben ebenso in die Atmosphäre der Geschichte gezogen zu werden, wie ich es beim Schreiben empfunden habe.

***

Sommer 2009.

Gewitter. Chocolate Chip Ice Cream. Und du.

Der Geruch von Salz und Sonnencreme. Das Plätschern der Wellen. Trockenes Gras, das an den Waden pikst. Eine warme Brise, die um die Arme streift.

Die Sonne prallte auf uns hinunter, ließ unsere Kopfhaut brutzeln und die Arme und Beine goldbraun werden. Du saßt neben mir, hattest die Beine zum Schneidersitz verschränkt und schautest gen Himmel. Deine Hand hieltest du dir schützend über die Augen und beobachtetes das Flugzeug, das laut und langsam über uns hinweg kroch.

Ich streckte mein Bein durch und spürte sofort das kratzige Gras an meiner Haut. Es war gemäht und staubtrocken. Gelb von der Sonne und platt vom Sitzen.

»Denkst du oft an Morgen?«

Ich drehte meinen Kopf zu ihm. Meine Hände waren hinter mir auf den Boden gestützt. Sie taten schon weh und waren ganz taub.

»Grundsätzlich?«

Er nickte.

»Ja.«

Er schaute mich an. Seine wasserklaren Augen verdüsterten sich.

»Oft?«

»Ja.« Ich nickte und blickte wieder auf den breiten Fluss vor uns. Meine Augen folgten einer Weile dem schweren Containerschiff, das sich seinen Weg gemächlich flussaufwärts erkämpfte.

»Ich nie.«

Verdutzt runzelte ich die Stirn und richtete meinen Blick wieder auf ihn. Er spürte ihn und beantwortete meine Frage, ohne dass ich sie aussprechen musste.

»Ich hab es mir abgewöhnt.«

Seine Augen begegneten wieder meinen und ich konnte die Wehmut in ihnen sehen. Die Enttäuschung. Den Schmerz. Die Heimatlosigkeit.

Du glaubst gar nicht, wie gerne ich an diesen Sommer denke. Wie bedenkenlos frei wir damals noch gewesen waren. Wie einfach manches war.

Die Zukunft war für uns das Morgen, Heute das Hier und Jetzt und die Vergangenheit unergründlich – nicht von Interesse. Denn was sollten wir in unserem Gestern, wenn wir das Heute und Morgen leben konnten? Was sollten wir in einem Gestern, in dem wir voneinander nichts gewusst hatten?

Damals warst du noch genauso groß wie ich, dein Haar ein Stück dunkler als heute und deine Sommersprossen ausgeprägter als sie danach jemals wieder waren. Aber vielleicht hab ich sie auch einfach verfälscht im Gedächtnis, weil ich so ungeheuer umgehauen von den orangen Punkten gewesen war.

Deine Nase ist heute schlanker, deine Lippen deutlich rauer, deine Augenbrauen breiter und deine Zähne gerader. Deine Stimme hingegen ist genauso klebrig und klangvoll wie von der ersten Sekunden, in der ich sie vernommen hatten. Heute ist sie einige Oktaven tiefer, doch das tut kaum etwas daran wie ich sie sehe. Sie ist ein Stück weit wie Teer. Zähflüssig und gefährlich. Denn wenn sie einen erstmal in ihren Bann gezogen hat, ist ein Entkommen aussichtslos.

Zwischen deinen Schneidezähnen hattest du damals noch eine große Lücke und deine Nase war blau und lila gewesen, weil du gegen eine geschlossene Tür gerannt warst.

So unperfekt du dich empfandest, so aufschauend warst du für mich.

»Wann fahrt ihr weiter?«

Diesmal war ich es, der das Schweigen zwischen uns brach.

Ein Radfahrer fuhr hinter uns entlang und sein Hund bellte laut auf. Ein leises Klimpern der Hundemarke, eine dunkler Schatten, der vorbei huschte, und das Kläffen entwich in die Ferne.

»Nächste Woche Freitag.«

Ich verzog den Mund und sah zurück auf den Fluss. Mein Bein kitzelte und als ich hinblickte, sah ich einen kleinen Käfer, der meinen Knöchel hinauf krabbelte. Ich lehnte mich nach vorne und versuchte das Insekt vorsichtig zurück ins Gras zu setzen.

»Vielleicht kommen wir ja nächsten Sommer wieder...«

Er ließ seine Stimme unbestimmt verklingen und hinterließ damit ein unwohles Gefühl in meiner Magengegend. Besonders zuversichtlich klang er nicht.

Der Käfer purzelte auf den Rücken und ich bot ihm meinen Zeigefinger, um sich daran festzuhalten und wieder aufzurappeln.

»Vielleicht...«

Ich spitzte die Ohren und war erfreut über den Funken an Hoffnung. Die Hoffnung, die nur entstand, wenn man sich etwas wünschte – aus tiefsten Herzen.

Lächelnd stellte ich meine Beine auf und legte meine Unterarme auf die Knie. Der kleine Käfer war irgendwo unter dem gemähten Rasen verschwunden.

Im Augenwinkel konnte ich sehen wie du nach einem der letzten kümmerlichen Grashalme griffst und ihn ausrisst. Du zerrupftest ihn in deinen Fingern, zogst jede einzelne Faser von seinem Stengel bis ein schlaffes Nichts übrig blieb. Du ließt ihn neben dich fallen und sankst nach hinten auf deinen Rücken. Deine Unterarme stütztest du neben dich auf den Boden, während du den Fluss durch deine Füße hindurch beobachtestes.

Eine Möwe ließ sich am Ufer nieder und gab ein Quietschen von sich, das alle anderen Vögel vertrieb. Sie fuhren auseinander, zogen ihre Kreise und ließen sich wenige Meter entfernt wieder nieder.

Links neben uns, nur wenige Meter weiter, lief ein etwa dreijähriges Mädchen im Kreis, kreischte vor Lachen und kugelte sich am Boden, als es das Gleichgewicht verlor. Ihre Eltern saßen neben ihr auf einer Decke und filmten sie.

Direkt dahinter spielte eine Gruppe von Jungs Fußball.

Rechts von uns, in weiter Ferne, saßen Studenten. Einer lag oberkörperfrei in der Sonne, eine Sonnenbrille über den Augen. Ein Weiterer umarmte eins der Mädchen von hinten, während sie eine Unterhaltung mit ihren Freundinnen führte.

»Ich glaube, ich fände es toll umherzureisen.«

Er stieß ein Schnauben aus und schüttelte mit zusammengepressten Kiefer den Kopf.

»Nicht, wenn du es erleben würdest.«

Ich verzog den Mund und widmete mich nachdenklich dem Dreck unter meinen kurzen Fingernägeln. Ich schob die Spur aus Erde, Sand und Schweiß mithilfe des einen Nagels unter dem anderen hervor und ärgerte mich im nächsten Moment, dass der Schmutz nun unter meinem Daumennagel klebte. Meine Augenbrauen wanderten eng zusammen, während ich den Ärger deines Verschwindens auf den Dreck projizierte.

Du konntest nichts dafür, es war die Entscheidung deiner Eltern. Und doch machte ich für einen Teil auch dich verantwortlich.

*

Im Alter von elf begann unsere Geschichte und sie wird erst wieder enden, wenn wir beide friedlich nebeneinander unseren letzten Atemzug vollenden.

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