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Der Regen ploppte auf die Windschutzscheibe, vermischte sich mit den Pollenresten und kroch gemächlich, aber in einem Sturz aus Wasser die Scheibe nach unten.

Meine Finger lagen zusammengefaltet in meinem Schoß. Blau und rot von der nassen Kälte. Sie klammerten sich aneinander, um sich gegenseitig die Wärme zu rauben, die sie nicht besaßen.

Ein Wassertropfen löste sich aus meinen Haaren, glitt meine Schläfe hinunter und tropfte wagemutig von meinem Kinn.

Ich zog die Nase hoch und wischte sie am Ärmel meines Pullovers ab.

Dich konnte ich nur im Augenwinkel erahnen.

»Wie lang bleibt ihr?«, brach ich das Schweigen, während mein Kopf langsam zur Seite fuhr.

Du hattest den Blick nach draußen gerichtet, auf die Schlieren aus Wasser, die sich hinter der Glasscheibe vor uns auftaten und uns beinah von der Außenwelt abtrieben. Du bisst auf deine Unterlippe, zogst sie in deinen Mund und ließt sie wieder hervor ploppen. 

»Zehn Tage.« Er fuhr sich durch die kurzen Haare und stieß ein tiefes Seufzen aus.

»Es tut mir leid, Sut.«

Verdattert sprangen meine Augenbrauen nach oben, nur um kurz darauf eng zusammenzurücken. Wieso entschuldigte er sich?

»Wofür?«

Er drehte seinen Kopf zu mir. Ich konnte sehen, dass er schluckte.

»Dass wir letztes Jahr nicht hier waren.«

Ich lächelte.

Ein Lächeln und die Welt war wieder in ihren Fugen. Jeder Konflikt, jeder Elefant, der damals zwischen uns gestanden hatte, benötigte immer nur ein Lächeln. Ein simples Lächeln, das alles Andere ins Dunkle schob.

Gott, wie ich das vermisse. Diese Leichtigkeit, die Sorglosigkeit über Morgen und das Bewusstsein des Jetzt. Das Auskosten jedes Moments, den wir miteinander hatten.

Jahrelang hatten wir füreinander nur zehn Tage im Sommer. Jedes Jahr aufs Neue. Und wir waren glücklich damit. Geradezu glückselig.

Bis die Tage kamen, in denen es düster in dir wurde. So düster, dass jeder deiner Atemzüge sinnlos für dich erschien.

*

Herbst 2013.

Mein Herz pochte wild in meiner Brust, als meine Augenlider aufsprangen und mir die Sicht auf mein rabenschwarzes Zimmer freigaben. An meine Ohren drang ein leises Surren. Kaum zwanzig Zentimeter von meinem Kopf. Leise. Rhythmisch.

Mein Handy!

Ich drehte mich zur Seite, tastete in der Dunkelheit nach dem Telefon und hielt es mir vor die Augen. Ich blinzelte ein paar Mal gegen die Helligkeit. Als auf dem Display jedoch dein Name erschien, ging jede Alarmglocke in meinem Kopf an. Von einem Atemzug zum Nächsten war jede Faser in mir angespannt. Als hätte mir jemand den Stecker reingesteckt und mich auf Aufschlag aufgedreht.

Hektisch drückte ich auf den grünen Hörer und hielt mir das Handy ans Ohr.

Noch nie hattest du mich mitten in der Nacht angerufen.

»Hallo?«

Ich fuhr mir nervös durch die Haare, während ich angespannt auf seine Stimme wartete. Als sie aber erklang, fiel mein Brustkorb in sich zusammen.

»Sut...«

Seine Stimme war so weinerlich und kläglich, das ich kaum glauben konnte, dass es seine war. Dass ich gar nicht glauben wollte, dass es seine war. In den Sommern hatte ich ihn nicht einmal richtig traurig erlebt. Wehmütig, vielleicht bedrückt, aber nie so traurig, dass er mit den Tränen zu kämpfen hatte.

Ein Schluchzen ertönte von der anderen Seite der Leitung und hallte unendlich in meinen Ohren wieder. Es gefror jede einzelne Ader in mir.

Meine Luftröhre verengte sich, meine Brust wurde klein und mein Herz schien mit jedem Pochen fürchterliche Schmerzen durch meinen Körper zu jagen.

Er litt und ich litt doppelt so sehr mit ihm.

»Sut...«

Mein Spitzname war kaum mehr als ein Hauch bei seiner Stimme. Sie war hoch, geradezu kieksig und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der Stimme, die ich von ihm kannte. Kein Rauch, Nichts Klebriges, sondern reine, hohe Töne, die nicht weniger zu ihm hätten passen können.

»Sut...«, schluchzte er erneut und ließ mich ein weiteres Stück in mich zusammensacken.

Ich schluckte, während mir ein Stechen in die rechte Brusthälfte fuhr.

»Was ist passiert, Nash?«

Ich flüsterte und doch schien meine Stimme ohrenbetäubend. Wie ein Güterzug, der nur zwei Meter vor einem die Gleise überquerte.

Meine Atmung versuchte ich so weit es ging zu unterdrücken, um jeden noch so leisen Laut von Nash mitzubekommen. Meine Ohren waren bis zum Äußersten gespitzt und mein Puls schien in jeder Pore meiner Gliedmaßen spürbar. Selbst auf der Zunge glaubte ich ihn spüren zu können.

Doch trotz meiner Bemühungen, verschwand jedes Geräusch von der anderen Seite der Leitung. Es war still.

Totenstill.

*

Manche Tage, die wir miteinander hatten, waren so düster, dass ich nie wieder an sie denken mag. Es gibt ganze Wochen, die ich am liebsten niemals mit dir hätte erleben wollen. Und doch gehören sie irgendwie dazu. Sie machen uns zu denen, die wir heute sind.

Auch wenn wir ohne sie ein ganzes Stück weniger kaputt sein könnten.

Das wichtigste an allem: sie liegen im Gestern. Sie sind vergangen und können uns keins zweites Mal erschlagen.

Crowded RoomWhere stories live. Discover now