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November 2016.

Die Wochen vergingen, ohne dass ich noch einmal von dir hörte. Du warst wie ein Geist. So nah und doch nicht greifbar. Du schwebtest ständig über mir, kreistest in meinen Gedanken, doch zu Gesicht bekam ich dich nicht.

Es war eine Schmach. Ein Höllenfeuer, aus dem ich kein Entkommen sah. Ich wusste nicht, was ich tun konnte, damit es aufhörte. Damit dieses Gefühl aufhörte, das mir stetig sagte, wie verloren ich war. Wie dumm, dich nicht einfach selbst anzurufen.

Ich versuchte mich abzulenken. Ich steckte beinah all meine Energie ins Lernen für die Uni, half Mom wo ich konnte und traf mich mit Joon. Dabei war ich jedoch nie tatsächlich im Hier und Jetzt. Ich war nie ganz da. Ein Teil war immer weg und machte sich Sorgen um Nash.

Wo steckte er gerade? War er noch hier? Oder war er wieder weitergezogen? Lebte er überhaupt hier in der Stadt? Lebte er vielleicht eine Stadt weiter? Was machte er? Ging er zur Uni? Ich hatte ihn da noch nie gesehen. Aber wie auch. Schließlich liefen dort Hunderte von Studenten rum. Aber so groß war der Campus auch nicht, oder? Ich hätte ihn zumindest mal von Weitem sehen müssen... Hatte er mich vielleicht schon gesehen? Ging er mir aus dem Weg? Mied er mich? Ich würde es ihm nicht verübeln.

»Sutton!« Joons energische Stimme drang in mich ein und ließ mich gewaltig zusammenzucken. Mein Kopf flog zur Seite und begegnete augenblicklich Joons verärgertem Blick.

»Gott, Sutton! Du hast mir schon wieder nicht zugehört. Ich hab das Gefühl, ich rede in letzter Zeit nur noch mit einer Wand.« Sie wandte sich mit verzogenen Augenbrauen von mir ab und sprang vom Hocker. Verdattert schüttelte ich den Kopf, bevor ich mir meine Tasche vom Tisch schnappte und Joon hinterher eilte. Dank meiner langen Beine hatte ich binnen weniger Sekunden zu ihr aufgeschlossen.

»Es tut mir leid, Joon.«

Sie stieß ein verächtliches Schnauben aus, bevor sie die Tür des Cafés öffnete. Der kalte Wind pfiff uns um die Ohren und ich schloss meine Jacke mit einem Ruck. Die Tür fiel hinter uns zu und ich trat wieder neben Joon.

»Lass mich Bier besorgen und wir treffen uns heute Abend in deiner Wohnung und dann kannst du mir alles erzählen. Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dir dann zuhören werde.«

Sie blieb stehen und sah mich an.

»Versprochen«, beteuerte ich und blickte ihr ernst entgegen. Sie nickte. 

Unwissend darüber, dass ich mein Versprechen brechen würde.

Drei Stunden später stand ich mit zwei Sixpacks vor Joons Wohnung und klopfte mit dem Fuß gegen die Tür. Da die Haustür unten schon seit Wochen kaputt war und nicht mehr richtig schloss, hatte ich nicht klingeln müssen.

»Joon, mach auf! Ich bin's«, rief ich durch die geschlossene Tür und kickte noch ein letztes Mal gegen die alte Holztür. Joon wohnte nicht in der besten Gegend. Das Haus war deutlich heruntergekommen, auf dem Spielplatz wenige Straßen weiter trieben sich mehr Kiffer als Kinder herum und das Gepolter der Nachbarn sprach wohl auch für sich. Aber es war nun einmal der Mietpreis, den man sich als Student leisten konnte.

»Joon!«

Herr Gott nochmal! Sie wusste doch, dass ich vorbeikam.

»Hey, kann ich dir helfen?«

Verdutzt drehte ich mich um und erblickte am Treppenabsatz einen jungen Kerl. Er musste um die zwanzig sein oder jünger. Ich runzelte die Stirn und musterte ihn genauer. Seine Haare waren völlig kraus, er hatte tiefe Augenringe unter den Augen und seine Wangen waren gewaltig eingefallen. Er machte nicht gerade einen vertrauenserweckenden Eindruck.

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