KAPITEL 2 | SYDNEY

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MEINE MITBEWOHNERIN KENNT mich aus irgendeinem Grund in- und auswendig, obwohl ich erst seit vier Monaten mit ihr in dieser WG wohne. Bronwyn Leigh weiß von meiner Liebe zu Schokolade und trotzdem ist es mir peinlich, dass sie mich gerade erwischt, wie ich dabei bin, eine ganze Tafel zu verschlingen. Sprachlos steht sie seit etwa zehn Sekunden im Türrahmen ─ nicht einmal ihre Tasche hat sie abgestellt ─ und beobachtet mich mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Wie kann es sein, dass du dich von nichts anderem als Schokolade ernährst und trotzdem buchstäblich die Figur eines Models hast?«

Ich lege die fast aufgegessene Tafel beiseite und stütze mich schief lächelnd mit den Ellbogen auf der Couch auf. »Danke, aber ich fühle mich nach den ganzen Kalorien leider überhaupt nicht mehr wie ein Model. Kannst du noch mal aus dem Zimmer gehen und wiederkommen, damit ich diesen Moment weniger peinlich in Erinnerung habe?«

Bronwyn schließt lachend die Wohnungstür hinter sich und ich lasse die Schokolade schnell verschwinden. Wenige Sekunden später kommt meine Mitbewohnerin herein, stellt ihre Tasche ab und streckt sich gähnend. »Ich hatte einen echt anstrengenden Tag. Jede Vorlesung hat gefühlt noch ein bisschen länger gedauert als die davor und ich bin wirklich froh, wenn ich mich endlich in mein Bett legen und schlafen kann.« Sie zwinkert mir zu. »Und wie war dein Tag, Sydney? Angesichts der Schokoladenreste in deinem Gesicht denke ich, dass irgendetwas passiert ist. Lass mich raten: Kolin?«

Über meinen Exfreund zu reden ist das Letzte, wonach mir gerade ist, aber Bronwyn wird nicht lockerlassen, wenn ich ihre Neugierde nicht stille. Also wische ich mir die Schokoladenreste weg und lasse mich stöhnend tiefer in die Kissen sinken. »Es ist einfach nur unfair, weißt du? Ich bin nicht nur an die University of New Haven gegangen, weil es ein gutes College ist, sondern auch, weil ich somit möglichst viele Kilometer zwischen mich und mein altes Zuhause bringen konnte. Und jetzt taucht Kolin plötzlich auch hier auf, als hätte er gewusst, an welches College ich gehen werde, aber ─ als würde das nicht reichen ─ studiert er auch fast das Gleiche wie ich. Ich muss ihn also jeden Tag ertragen, gezwungenermaßen nett zu ihm sein und versuchen, ihn nicht eiskalt abzuservieren, wenn er mich zum wiederholten Mal nach einem Date fragt.«

Dafür, dass ich nicht darüber reden wollte, habe ich erstaunlich viel gesagt. Aber anders kennt es Bronwyn nicht, denn es ist eine Eigenschaft von mir, zu viel auf einmal zu reden. Ich komme dann immer so richtig in Rage und bemerke gar nicht, dass ich viel zu viel sage.

Meine Mitbewohnerin lässt sich neben mir auf das Sofa fallen und zieht stöhnend ihre Schuhe aus, so als würde allein das ihr körperliche Schmerzen bereiten. Dabei weiß ich es besser. Bronwyns einzige Lebensfreude bestand noch vor einem Jahr darin, auf der Bühne zu stehen und zu tanzen, aber dank eines schweren Unfalls ist Tanzen für immer unmöglich für sie. Ich weiß nur so viel, dass die Verletzung sich an ihrem Knie befindet und sehr langsam verheilt. Mehr wollte sie mir nicht verraten und aus Rücksicht habe ich nicht weiter nachgefragt.

»Das verstehe ich nicht. Hast du nicht gesagt, dass du und Kolin seit einem Jahr getrennt seid?«

Ich nicke. Ja, vor so ziemlich genau einem Jahr habe ich meine allererste Beziehung beendet.

Bronwyn rümpft die Nase. »Wieso kann er dich dann nicht in Ruhe lassen? Eigentlich dachte ich, er flirtet mit dir nur auf Partys, aber wenn er es jetzt auch schon nicht in den Vorlesungen sein lassen kann, wirst du wohl noch deutlicher werden müssen.«

»Du meinst, es war nicht deutlich genug, als ich gesagt habe, dass ich im Leben nichts mehr von ihm will? Und dass er sich seine Anmachsprüche sonst wohin stecken soll?«

»Manche Jungs brauchen so etwas schriftlich, Sydney.«

Und manche Jungs heißen Kolin Queens und können ihre Hände nicht bei sich lassen.

Bronwyn hat recht, denn auf jeder College-Party, auf der ich bisher gewesen bin ─ es waren eigentlich nicht besonders viele ─ ist Kolin nicht von meiner Seite gewichen, wollte mit mir tanzen und hat mir mehrmals Drinks angeboten. Mein Exfreund ist das Einzige, das mich an mein altes Zuhause erinnert und vielleicht halte ich es aus genau diesem Grund kaum mit ihm in einem Raum aus.

Etwas knistert neben mir verdächtig. Als ich den Kopf zu Bronwyn drehe, ist sie gerade dabei, das letzte Stück meiner Lieblingsschokolade zu essen.

»Was für eine Sorte ist das?«, fragt sie mich und seufzt daraufhin genüsslich.

Ich grinse. »Joghurt.«

»Wenn du mir sagst, dass noch mehr davon da ist, bist du offiziell die beste Mitbewohnerin der Welt.«

»Besser als Candice?«

Wir verziehen bei dem Gedanken an Candice Aplin das Gesicht, denn wir haben beide nicht wirklich gute Erfahrungen mit ihr gemacht, um es nett auszudrücken. Sie ist Bronwyns Zimmermitbewohnerin gewesen, bevor ich gekommen bin, aber sie und Bronwyn haben sich nicht wirklich gut verstanden. Da ich jetzt in ihrem alten Zimmer wohne, kann Candice mich bis zum Tod nicht ausstehen und das lässt sie mich fast jeden Tag zu spüren bekommen. Ich hätte ja eigentlich erwartet, dass die Leute auf dem College weniger kindisch und zickig sind, aber da habe ich mich ordentlich geirrt.

»Hast du Lust einen Film zu schauen?«

Ich nicke sofort, weil ich jede Menge Ablenkung gebrauchen kann. Vier Monate sind nicht lange, aber in diesen vier Monaten ist viel zu viel passiert. Mehr als in meiner ganzen Highschool-Zeit und das soll etwas heißen.

Die University of New Haven ist meiner Meinung nach eines der besten Colleges in Connecticut und anscheinend auch eines der turbulentesten. Kolin klebt seit vier Monaten an mir, Candice und ihre Clique freuen sich über jeden Tag, an dem sie mich und Bronwyn nerven können und dann ist da noch diese eine College-Party gewesen, über die ich öfter nachdenke, als ich eigentlich sollte.

Zwei Wochen ist es jetzt her, seit die Polizei uns in dieser Nacht verhört hat. Ich habe diesem einen Officer direkt ins Gesicht gelogen, als er mir Fragen gestellt hat, was mir überhaupt nicht ähnlichsieht. Ich bin nicht der draufgängerische Typ, der viel unternimmt und gegen die Regeln verstößt. Das werde ich wahrscheinlich nie sein. Meine Teenager-Zeit ist perfekt gewesen, mein ganzes Leben ist perfekt gewesen, bis ich mich meinen Eltern bei meiner College-Wahl einmal widersetzt habe. Trotzdem macht mich das nicht zur Draufgängerin. Ich bin eher der zurückgezogene Typ, jemand, der lieber Zuhause herumsitzt, lernt oder Serien schaut.

Und das ist wirklich völlig okay für mich.

Bronwyn lässt mich den Film aussuchen und ich entscheide mich für Wie ein einziger Tag, weil eine Liebesgeschichte irgendwie genau das ist was ich gerade brauche. Meine Mitbewohnerin beschwert sich zwar fast alle zehn Minuten, dass die Handlung viel zu unrealistisch ist, aber mir gefällt es. Mir ist bewusst, dass nichts davon sich im wahren Leben genauso abspielen würde, aber für mich ist genau das der Punkt von Liebesfilmen. Sie sind nicht realistisch, aber sie lassen einen abschalten und träumen.

Bronwyn wird ziemlich schnell müde und legt sich in ihrem Zimmer schlafen. Ich merke erst beim Abspann, dass meine Augen schwer werden und kann kaum noch gegen die Erschöpfung ankämpfen. In dem Moment, in dem auch ich mich schlafen legen will, höre ich Geräusche, die von draußen kommen.

Dann hämmert jemand ohne Pause gegen meine Haustür.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt