KAPITEL 22 | HUNTER

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ICH BEOBACHTE DEAN und Sydney genau, die mit dem Rücken zu mir auf der Parkbank sitzen und nicht den leisesten Schimmer haben, dass sie nicht allein sind.

Zwar komme ich mir in meiner Position wie ein Stalker vor ─ kniend hinter einem Busch und mit einer Kapuze über dem Kopf ─, aber ich verdränge den Gedanken schnell wieder und konzentriere mich auf ihre Worte.

Falls Kolin gedacht hat, dass sie irgendetwas Sinnvolles von sich geben, so hat er sich ordentlich geirrt. Wie immer.

Dean hat sich wirklich kein Stück verändert, was anhand seiner Lebensumstände fast schon unmöglich sein müsste. Er flirtet, setzt sein übliches Grinsen auf und bringt Sydney abwechselnd zum Lachen und Kopfschütteln.

Er kann froh sein, dass es bereits dämmert und nicht viele Leute im East Rock Park spazieren gehen. Außerdem hat er genau wie ich seine Kapuze über den Kopf gezogen, sodass er kaum erkennbar ist. Früher ist die Kapuze unser Ding gewesen. Jetzt ist es eine Notwendigkeit, um nicht aufzufallen, die wir alleine durchziehen.

Ich bin nicht neidisch auf Dean, weil er so gut zurechtkommt. Jemand wie Sydney tut ihm gut und bringt ihn dazu, nicht vollkommen durchzudrehen. In diesem Moment wünsche ich mir sogar, ich hätte Bronwyn auf unserem Date nicht so mies behandelt, aber es ist ja auch nicht so, als hätte ich eine Wahl gehabt. Ich musste sie über Dean und Sydney ausfragen, bis es ihr irgendwann gereicht hat und sie das Restaurant verlassen hat. Die Tränen in ihren Augen sind mir dabei nicht entgangen. Ich fühle mich bis heute wie ein Idiot deswegen, zumal ich sie wirklich mochte.

Jeder, der mir am Herzen liegt, verschwindet.

Zuerst meine Mom, die nach Europa ausgewandert ist, als Hollyn und ich zwei Jahre alt waren. Dad ist kurz vor unserem achtzehnten Geburtstag ebenfalls gegangen, aber wenigstens war er noch so großzügig und hat gewartet, bis wir fast volljährig waren. Ich weiß nicht, wohin er verschwunden ist, aber wenn er und Mom sich gefunden haben, dann bin ich fast froh darüber. Die beiden teilen wenigstens ihre Abneigung ihren Kindern gegenüber.

Der Unterschied zwischen meinen Eltern und Hollyn ist, dass meine Schwester nicht einfach gegangen ist.

Sie ist nämlich tot.

Und das ist so ziemlich die einzige Sache in meinem Leben, bei der ich mir sicher bin. Sonst scheint nichts Sinn zu machen. Ich weiß, dass Hollyn nur Gutes verdient hat, ich sie über alles geliebt habe und sie meine einzige Familie gewesen ist. Wir waren Geschwister, Zwillinge und beste Freunde, die sich oft genug gestritten und immer wieder zueinander gefunden haben. Wenn ich irgendetwas bereue, dann, dass ich in dieser Nacht nicht besser auf sie aufpassen konnte. Dass ich Xander zu sehr vertraut und mir bei seinen Blicken, die er ihr zugeworfen hat, nichts gedacht habe.

Und dass ich Dean die Schuld an allem gegeben habe.

Schluckend fische ich eine Zigarette aus meiner Jackentasche heraus und zünde sie mir an. Hollyn würde mich wahrscheinlich eigenhändig umbringen, wenn sie wüsste, dass ich rauche. Zu schade, dass sie nicht hier ist, um mich zurechtzuweisen.

Xander tagtäglich zu sehen bricht mich jedes Mal aufs Neue. Er war wie Dean ebenfalls mein Freund und ich hätte ihm alles anvertraut. Was er mit diesem Vertrauen angestellt hat, sieht man an dem, was mit Hollyn passiert ist.

Mir wird plötzlich schlecht, wenn ich daran denke, was er ihr angetan hat. Wie er sie angefasst und schließlich umgebracht hat. Natürlich weiß ich das nicht mit Sicherheit, aber je mehr Zeit ich mit Xander, Kolin und jetzt auch Gavin verbringe, desto mehr finde ich heraus. Und desto mehr zerbreche ich an der Wahrheit.

Ich stütze die Unterarme auf meinen Oberschenkeln ab und atme ein paar Mal tief durch, während Sydneys Lachen zu mir durchdringt und mich wieder in die Realität zurückholt.

Ich schaue auf und sehe in ihr strahlendes Gesicht, woraufhin ich den Atem anhalten muss. Mir ist schon bei unserer allerersten Begegnung aufgefallen, wie attraktiv sie ist. Sie hat dieses natürliche Strahlen, das anscheinend nicht nur mich in den Bann zieht, denn Dean scheint es ebenfalls die Sprache verschlagen zu haben.

Ich glaube, es war Sydneys erster Tag an der University of New Haven, denn sie sah ziemlich nervös aus und hat ständig mit einer hellblonden Locke gespielt, die ihr ins Gesicht gefallen ist. Ich bin den Campus entlanggelaufen, weil Kolin mir geschrieben hat, dass er in New Haven angekommen ist, und da stand sie völlig desorientiert in einem Pulk von Studenten. Obwohl es gegen meine Prinzipien spricht, bin ich kurz davor gewesen, sie anzusprechen, aber dann ist mir jemand anderes zuvorgekommen.

Bronwyn Leigh, das Mädchen, das ich vor ein paar Wochen ausführen musste. Mir fällt erst jetzt auf, wie verworren das Ganze ist. Mittlerweile bin ich aber froh, dass sie Sydney vor mir herumführen konnte, denn so ist eine Freundschaft entstanden, die mir jeden Tag auf dem Campus vor Augen geführt wird.

Ich kenne Sydney nicht, habe noch nie ein Wort mit ihr gewechselt und trotzdem freue ich mich für sie, dass sie sich so schnell eingefunden hat.

Ein unbekannter Stich durchfährt meinen Bauch, als Sydney schwungvoll aufsteht, nach Deans Händen greift und ihn ebenfalls von der Bank hochhievt. Oder es jedenfalls versucht. Er lacht, gibt schließlich nach und geht auf sie zu, bis er direkt vor ihr steht und die beiden kein Blatt mehr trennt. Sie küssen sich nicht, auch wenn es danach aussieht, und ich bewundere Dean für seine Selbstbeherrschung, die ich an seiner Stelle nicht hätte.

Trotzdem ist es unübersehbar, wie verliebt er in sie ist.

Die Trauer um Hollyn, die Wut auf Xander, Kolin und Gavin und die Eifersucht auf das, was Dean hat, bringen mich schließlich dazu, mich umzudrehen und den East Rock Park hinter mir zu lassen.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt