KAPITEL 4 | DEAN

9.9K 658 486
                                    

»FÜR DIESES GESPRÄCH brauche ich aber unbedingt Schokolade«, ist das Einzige, das Sydney sagt, bevor sie an mir vorbeiflitzt und in der Küche herumkramt.

Damit habe ich jetzt nicht gerechnet.

Aber ich habe auch nichts gegen Schokolade einzuwenden. Immerhin habe ich seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr gegessen und könnte für dieses Gespräch ebenfalls etwas Süßes gebrauchen, auch wenn mir etwas anderes auf nüchternen Magen lieber wäre. Aber ich will Sydney nicht danach fragen, weil sie ohnehin schon viel für mich gemacht hat und ich mir unhöflich vorkomme. Ich kann immerhin froh sein, dass sie mich noch nicht herausgeschmissen hat.

Und obwohl ich es ihr nicht gut genug ─ oder auch gar nicht ─ zeige, so bin ich doch dankbar, denn die meisten Menschen, die ich kenne, hätten mir weder vor zwei Wochen noch jetzt gerade geholfen. Im Gegenteil, sie hätten wahrscheinlich Angst vor mir gehabt. Sydney jedoch scheint keine Hemmungen davor zu haben, mir ihre Meinung zu sagen. Sie ist direkt, ehrlich und anders als jedes Mädchen, das ich bisher getroffen habe. Vielleicht werde ich deshalb genauso ehrlich und direkt ihr gegenüber sein, denn sie verdient die Wahrheit, wenn sie sich schon mit mir geschlagen gibt. Außerdem ist sie mutig und kritisch, was ich ihr hoch anrechne. Immerhin hat sie sich verteidigen wollen, als ich vor ihr stand.

Mit einem Nudelholz.

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, als ich sie geistig wieder vor mir stehen sehe, mit diesem Ding in den Händen, der Blick wachsam, die Haare völlig wirr und lockig.

Auch im nüchternen Zustand finde ich sie übrigens hübsch. Ich weiß nicht, ob es an ihren langen, hellen Haaren liegt, die bestimmt weicher sind, als sie im Moment aussehen, oder an ihren unscheinbaren Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase, die mich so verzaubern. Aber irgendetwas hat sie, das mir besonders gut gefällt und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich sie nicht will. Ich glaube, noch nie hat jemand bei mir so viel Eindruck hinterlassen wie sie und das nur mit wenigen ─ wenn auch nicht sehr netten ─ Worten.

Als sich Sydney wieder neben mich setzt und die Hälfte der Schokolade mir gibt, bin ich kurz sprachlos. Denn diese Geste ist so natürlich und normal herübergekommen, fast so als würden wir dauernd zusammen auf dem Sofa sitzen und Schokolade essen.

Ich nehme zwei Stücke auf einmal in den Mund, weil ich wirklich Hunger habe.

Plötzlich höre ich sie neben mir zum ersten Mal in dieser Nacht lachen.

Mein Kopf schnellt zu ihr und ich glaube, dass mein Mund offensteht, aber ich kann nichts dagegen tun. Mein Herz hämmert in meiner Brust, auch wenn mein Marathon vor der Polizei lange genug her ist, dass ich eigentlich nicht mehr außer Atem sein sollte. Dann leuchtet es mir plötzlich ein. Sie macht das mit mir und das nur, indem sie lacht. Und es ist genauso, wie ich es mir vor zwei Wochen auf der Collegeparty vorgestellt habe. Strahlend hell und kindlich.

Ich muss sofort auch lächeln. »Du solltest viel öfter lachen, Sydney.«

Sie verstummt sofort und sieht mich fast schon ehrfürchtig an. Sydney hat große, blaue Augen, die umrahmt von dichten, langen Wimpern sind, aber in diesem Moment sind sie wirklich riesig und sie guckt mich an, als hätte sie nicht mit einem Kompliment gerechnet.

Ich runzle die Stirn. »Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Endlich erwacht sie aus ihrer Starre und schüttelt heftig mit dem Kopf. »Nein, nein. Überhaupt nicht.« Lächelnd greift sie erneut nach der Schokolade und bietet mir noch etwas davon an. »Willst du noch?«

Ich nicke, dann kratze ich all meinen Mut zusammen, um das nächste Wort herausbringen zu können. »Danke.«

»Es ist nur Schokolade, also wirklich keine große Sache.«

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt