KAPITEL 41 | DEAN

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ES IST HIER wirklich noch schlimmer, als ich gedacht habe. Die Insel Rikers Island ist riesig und liegt direkt zwischen den New Yorker Stadtteilen Queens und Bronx. Einer der Aufseher meinte, dass sich hier insgesamt zehn verschiedene Gefängnisse mit tausenden von Insassen befinden. Etwa achtzig Prozent der Gefangenen sind drogenabhängig, der Rest ist tatsächlich wegen eines Gewaltverbrechens hier.

Ja, ich habe mich wirklich gut informiert.

Der Aufseher, der hier draußen immer links am Zaun steht, scheint mich aber auch zu mögen. Ich bin seit zwei Tagen hier und habe mich nicht wirklich integrieren können, aber das ist mir von Anfang an klar gewesen. Diese Leute sind aus einem ganz bestimmten Grund hier und so verhalten sie sich auch. Einer von ihnen sieht sich selbst als unser Anführer, was völlig bescheuert ist, wenn man genauer darüber nachdenkt. Keine Ahnung, wie er heißt, aber ich nenne ihn ›Berry‹, weil er mich mit seinem fülligeren Gesicht und den unzähligen Sommersprossen, die sogar auf seinen muskulösen Armen verteilt sind, an eine Beere erinnert.

Jetzt gerade stemmen er und seine Komplizen Gewichte, während sie mich argwöhnisch betrachten. Ich glaube, sie können mich noch nicht so ganz einschätzen, aber das ist auch gut so. Solange sie nichts gegen mich haben, gehen sie auch nicht auf mich los.

Ich bin ganz ehrlich: Ich fühle mich hier irgendwie verloren. Zwar versuche ich seit drei Tagen einfach mit der Masse mit zu schwimmen, aber das fällt mir nicht leicht. Außerdem ... außerdem fehlt sie mir.

Gleichzeitig ist sie auch mein einziger Anker in dieser Situation. Der einzige Mensch, dem ich mich komplett anvertrauen kann. Ich frage mich, von wem sie erfahren hat, dass ich nicht mehr da bin und wie es ihr gerade geht. Wenn ich könnte, würde ich ihr mithilfe von telepathischen Fähigkeiten mitteilen, dass alles in Ordnung ist und sie sich keine Sorgen machen muss. Ich weiß, dass sie, Bronwyn und Peter irgendetwas aushecken, aber insgeheim will ich das gar nicht. Mir wäre es tausendmal lieber, sie würden einfach irgendwie darüber hinwegkommen, statt sich mit dem Chaos zu beschäftigen, das mal wieder durch mich verursacht wurde. Um ehrlich zu sein komme ich mir vor wie der letzte Idiot. Warum habe ich mich nicht einfach bei meinen Eltern gemeldet? Zugegeben, zu der Zeit hatte ich noch gar kein Handy, aber ─

»Hey! Neuankömmling!«

Ganz langsam löse ich meine Finger von dem Zaun, der mich für immer von der Außenwelt abschirmen wird. Officer Redhead hat es zwar nicht ausgesprochen, aber ich weiß, dass ich hier lebenslang festsitze. Er wollte es mir mitteilen, aber mich haben Kolins Beweise und alles andere gar nicht mehr interessiert. Mir ist nämlich ganz einfach klargeworden, dass es niemals aufhören wird.

Ich bin nicht jemand, der schnell aufgibt ─ wirklich nicht. Aber ich mache das alles seit fast zehn Monaten mit und so langsam habe ich die Hoffnung einfach aufgegeben. Hätte ich sie nicht kennengelernt, würde ich mich vielleicht ein bisschen besser mit meinem Schicksal abfinden, aber so muss ich ständig an sie denken. Ich stelle mir vor, wie ich einen völlig unpassenden Witz reiße und sie lachend die Augen verdreht. Oder wie es sich anfühlt bei ihr zu sein, in ihr zu sein und mit ihr zusammen zu sein. Ich durfte all das erfahren, aber es war viel zu kurz. Alle Zeit der Welt wäre zu kurz, wenn ich sie mit ihr verbringen könnte. Noch schlimmer ist es allerdings hilflos am Zaun zu stehen, in die Ferne zu gucken und mir sie vorzustellen, während Berry und seine Freunde ganz nah hinter mir stehen.

»Sag mal, bist du taub, Mann?«

Langsam wende ich mich ihnen zu. Ich darf jetzt nichts Falsches sagen oder machen. Wenn ich mich zu schwach zeige, werden sie mich als leichtes Opfer sehen und wenn ich den knallharten Kerl spiele, sehen sie in mir eine Herausforderung, die sie zu hundert Prozent annehmen werden. Etwas anderes haben sie ja den lieben langen Tag nicht zu tun.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt