KAPITEL 15 | SYDNEY

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GANZ LANGSAM ÖFFNE ich die Augen, erst das rechte, dann das linke. Ich befinde mich nach wie vor in Jeremys Gästezimmer, auch wenn ich für einen kurzen Moment gedacht habe, ich würde mich im Wohnheim mit Bronwyn befinden. Immer noch ein wenig verwirrt stütze ich die Hände unter mir ab und setze mich auf. Seit wann ist die Matratze so hart und ... warm?

Und seit wann bewegt sie sich?

Dean murmelt unter mir irgendetwas, das ich nicht verstehen kann. Unglaublich, dass dieser Kerl sogar gut aussieht, wenn er im Schlaf redet. Seine Gesichtszüge sind entspannt, seine Lippen trennt einen Spalt breit und seine Atemzüge gehen unter mir regelmäßig. Gedankenverloren streiche ich ihm durch die Haare, in der Hoffnung, dass er davon aufwacht, aber er schläft wie ein Baby.

Ich bin mir sicher, dass ich ihn noch mindestens fünf Minuten lang angestarrt habe, bis ich leise aufgestanden und ins Badezimmer gegangen bin. Dort putze ich mir die Zähne mit derselben neuen Zahnbürste, die ich auch schon gestern benutzt habe. Danach binde ich meine Haare hoch, die noch wirrer sind als sonst. Mein Blick bleibt dabei an meinen Lippen hängen und sofort kommt mir das Gespräch mit Dean gestern Nacht in den Sinn.

Ich wünschte, er hätte mich geküsst.

Gleichzeitig kann ich verstehen, dass er es nicht getan hat. Neben Kolin und meinen fast schon lächerlichen Komplexen wird Dean nach wie vor von der Polizei gesucht und ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn wir es letzte Nacht nicht geschafft hätten.

Das alles ist so verzwickt und wie gestern wünsche ich mir, wir hätten uns einfach schon vor zwei Jahren kennengelernt. Ich wäre siebzehn gewesen, er neunzehn. Vielleicht hätten wir wegen des minimalen Altersunterschieds ein paar Komplikationen gehabt, aber ich bin mir sicher, dass es trotzdem einfacher gewesen wäre.

Als ich in die Küche gehe, duftet es nach Jeremys berühmt berüchtigten Pfannkuchen und mir läuft vor Hunger wortwörtlich das Wasser im Mund zusammen. Mein Bruder steht am Herd und wendet die Pfannkuchen, indem er die Pfanne nimmt und sie hochschleudert. Keine Ahnung, wie er das hinbekommt, ohne dass er sich den Pfannkuchen ins Gesicht klatscht.

»Guten Morgen«, sage ich, während ich mich hinsetze.

»Morgen, Syd.« Er sieht mich über die Schulter hinweg an und zögert mit seinem Lächeln, während er mich fast schon prüfend mustert.

Gut zu wissen, dass diese Situation nicht nur für mich komisch ist. »Wo ist Avery?«

»Sie schläft noch. Sonntags schläft sie meistens länger.« Er befördert den letzten Pfannkuchen auf einen Teller, auf dem bereits mindestens zwanzig Stück gestapelt sind, und stellt ihn mir dann vor die Nase. »Guten Appetit.«

Aus irgendeinem Grund muss ich grinsen. »Danke.«

»Wie geht es dir? Wie ist dein Studium? Du hast dich wahrscheinlich für Psychologie entschieden, oder?« Er setzt sich mir gegenüber und macht es sich scheinbar zur Aufgabe mich auszuhorchen.

Aber er kann mich so viel fragen, wie er will, wenn auch ich Fragen stellen darf. »Psychologie ist eben das, was mich schon immer interessiert hat. Mir geht es den Umständen entsprechend gut und das Studium ist noch besser, als ich erwartet hätte. Ich bin wirklich glücklich mit meiner College-Wahl.«

»Wie glücklich waren Mom und Dad?«, fragt Jeremy halb lachend, halb verächtlich.

»Mit Mom telefoniere ich manchmal, aber Dad ... er antwortet nicht richtig auf meine Nachrichten. Trotzdem haben sie mich und dich lieb, Jer, und das weißt du auch.«

»Ich habe seit drei Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Sie hassen New Haven, sie hassen mein College und sie hassen meine Verlobte. Gibt es irgendetwas, was sie nicht hassen?«

»Kinder, die in ihrer Nähe bleiben und anständige Beziehung führen«, entgegne ich, wobei ich eigentlich nur Dad imitiere.

Jeremy schnaubt. »Wenigstens weiß ich jetzt, was Dad damit gemeint hat. Ich meine, Dean Walker? Wie zur Hölle bist du an den geraten, Syd? Hat er zufällig an deiner Haustür geklopft und wollte mal Hallo sagen?«

Wenn er wüsste, dass er damit gar nicht mal so unrecht hat ...

Ich wäge meine Worte gut ab, komme dann aber zu dem Entschluss, dass es egal ist, was ich sage, denn Jeremy wird so oder so einen Weg finden, um mir den Kontakt zu Dean auszureden. »Wirst du es irgendwem erzählen?«

»Natürlich nicht«, beharrt mein Bruder. »Du würdest echt in Schwierigkeiten stecken und das ist das Letzte, was ich will. Aber du kannst auch nicht erwarten, dass ich hier einfach nur tatenlos herumsitze und zusehe, wie du dich allmählich in ihn verliebst.«

Meine Gabel fällt klirrend auf den Teller. »Ich verliebe mich nicht in ihn, Jer. Wir sind so was wie Freunde.«

»Mir kannst du nichts vormachen, Syd.« Das erste Mal, seit wir uns wiedergesehen haben, sehe ich dieses jungenhafte Grinsen im Gesicht. »Das hast du schon immer versucht, aber ich weiß genau, auf welchen Typ Kerl du stehst.«

»Ach ja? Weißt du es nach drei Jahren immer noch?«

Er lehnt sich seufzend wieder zurück. »Ich will, dass wir nach heute in Kontakt bleiben. Das heißt, falls irgendetwas sein soll, dann kannst du mich immer anrufen, okay? Wir sind jetzt erwachsen, Sydney. Unsere Eltern können nicht beeinflussen, mit wem wir uns abgeben und mit wem nicht.«

Ich nicke einverstanden. »Noch irgendein geschwisterlicher Rat, außer dass ich mich von Dean fernhalten soll?«

»Avery hat mir gestern ein paar Dinge erzählt.« Er hält kurz inne. »Ich weiß nicht, ob du davon wusstest, aber Kolin und sie sind eine Zeit lang befreundet gewesen, lange bevor ihr beiden ein Paar wart und ich mit Avery zusammengekommen bin. Sie hat viele Auseinandersetzungen zwischen Dean und seinen Eltern mitbekommen und meinte, dass Kolin nicht so ist, wie er vielleicht scheint. Sie glaubt, er ist in diese ganze Mord-Sache viel mehr verwickelt, als wir denken.«

Ich stutze. »Also ist dein Rat, dass ich mich von Dean und Kolin fernhalten soll?«

Er schüttelt den Kopf und sieht dabei ernsthaft besorgt um mich aus. »Mein Rat ist, dass du niemandem trauen sollst, bis dieser Fall nicht endlich geklärt ist. Denn sonst steckst du am Ende viel weiter drinnen, als du eigentlich willst.«

Daraufhin schweige ich, weil ich nicht aussprechen kann, was ich eigentlich denke.

Ich stecke doch so oder so schon zu tief drinnen.

Und zwar aus dem Grund, weil ich Dean ab jetzt nicht mehr alleine lassen und Kolin noch genügend über alles ausfragen werde, auch wenn diese Dinge nicht zu den klügsten Entscheidungen meines Lebens gehören. Aber ich will, dass Dean ein Leben hat, dass die Gerüchte auf dem College aufhören, dass Gavin und Bronwyn sich keine Sorgen mehr machen müssen und dass ich am Ende dieses Mordfalls sagen kann, dass ich an Deans Unschuld von Anfang an geglaubt habe.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt