KAPITEL 32 | DEAN

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ES IST EINE dumme Angewohnheit von mir Witze zu reißen, wenn es vollkommen unpassend ist. Meistens geht niemand richtig darauf ein, aber Officer Redhead scheint jemand zu sein, dem es gar nicht gefällt, wenn ich seinen Schnurrbart als ›stylisch‹ bezeichne.

Jedenfalls ist seine Miene ziemlich grimmig gewesen, als ich es bei unserem letzten Verhör getan habe.

Trotzdem versuche ich bei jedem unserer Gespräche einen lockeren Umgang beizubehalten, weil ich mir sonst viel zu ernst vorkomme. Außerdem wirkt die ganze Situation realer, sobald ich denselben seriösen Ton wie Officer Redhead verwende.

Er verhört mich entweder zum vierten oder fünften Mal, ich bin mir nicht ganz sicher. Eigentlich sind es immer dieselben Fragen, auf die ich logischerweise auch immer gleich antworte. Anhand dessen, was er ins Funkgerät spricht, haben wir drei Uhr achtunddreißig. In der Nacht. Man kann sich also denken, dass ich unglaublich müde und ausgelaugt bin. Andererseits ist alles besser, als in dieser engen Zelle zu schlafen, in der es nach Staub riecht und vor Spinnenweben nur so wimmelt. Ich bin insgeheim also ganz froh, da mal herauskommen zu können.

»Ich habe Neuigkeiten für Sie«, sagt Officer Redhead plötzlich, während er sich über den Tisch weiter zu mir vorbeugt. »Xander Reed wurde vor zwei Stunden festgenommen. Er wurde auf die Insel Rikers Island versetzt.«

Meine Augen müssen die Größe von zwei Tellern haben und es fühlt sich so an, als würde ich fast vom Stuhl kippen. »Rikers Island? Die Gefängnisanstalt in New York?«

Officer Redhead nickt nur.

Ich warte darauf, dass er mir mehr erzählt, aber ich bekomme nichts als Stille von ihm. »Kommen Sie, Officer, sonst sind Sie doch auch nicht so schweigsam. Warum wurde Xander festgenommen?«

»Ein Beweismaterial wurde von zwei Zeugen aufgetrieben, das Mr Reed umgehend für schuldig gesprochen hat.« Wenn ich mich nicht täusche, lächelt er sogar ein wenig. »Das Beweismaterial gehörte sogar einst Ihnen.«

Meine Videokamera.

Ich spreche die Schlussfolgerung nicht laut aus, weil Officer Redhead immerhin keine Ahnung habe, dass ich von ihr weiß. Gespielt ahnungslos ziehe ich die Augenbrauen in die Höhe, um meine Neugierde zu unterstreichen.

Officer Redhead beobachtet jede meiner Reaktionen genauestens. »Bei dem Beweismaterial handelt es sich um ein Video, das in der Nacht, in der das Opfer ermordet worden ist, aufgenommen wurde. Es bestätigt Ihre Aussagen und zeigt deutlich, dass das Opfer von Xander Reed sexuell missbraucht wurde.«

Mir wird schlecht, als ich daran denke, dass Sydney es vermutlich gesehen hat. Ich wusste von Anfang an, dass Xander das Hollyn angetan hat, aber es bestätigt zu bekommen, ist noch einmal etwas anderes. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Wer hat Ihnen dieses Video gegeben?«

»Ihre Freundin und ein gewisser Hunter McRae. Sie wissen doch, von wem ich spreche, oder?«

Er muss mich wirklich für völlig bescheuert halten, wenn er mir diese Frage gerade ernsthaft gestellt hat. Wenn Sydney das Video mit Hunters Hilfe gefunden hat, dann ist wenigstens eines unserer Probleme gelöst.

Auch wenn ich versuche, mich und Officer Redhead bei guter Laune zu halten, so geht es mir eigentlich hundsmiserabel. Ich versuche, diesen Ort und die ständigen Vernehmungen nicht zu sehr an mich heranzulassen, um bei Verstand zu bleiben und meine Möglichkeiten, wie ich hier herauskommen kann, abzuwägen. Ich mache es nicht für mich, auch wenn das schwer vorstellbar ist, aber ich habe mich mit meinem Schicksal mehr oder weniger bereits abgefunden. Ich mache es für sie, alles nur für sie.

Ich seufze. »Warum sitze ich noch hier, wenn dieses Video bereits beschlagnahmt wurde?«

»Die Aufnahme zeigt, von wem das Opfer misshandelt und nicht, von wem es umgebracht wurde, Mr Avens. Ich wollte Ihnen diese Information überbringen, damit sie morgen auf dem aktuellen Stand sind.« Officer Redhead sammelt die Unterlagen, die vor uns auf dem Tisch ausgebreitet sind, zusammen und schenkt mir fürs Erste keine Aufmerksamkeit mehr.

Morgen ist meine Gerichtsverhandlung und dort werden nicht nur Sydney, Peter und Bronwyn oder Kolin, Gavin und Hunter erscheinen, sondern auch meine Eltern. Alice und Richard Avens werden den langen Weg von Tennessee kommen, um gegen mich auszusagen.

Ich kann mir schönere Dinge vorstellen.

»Haben Sie Gavin bereits wegen des Anrufs befragt?«, will ich wissen, während ich die Hände auf die kühle Tischplatte lege, was meiner erhitzten Haut guttut. Es ist wirklich heiß und stickig in diesem Raum, aber ich bin auch furchtbar nervös. Kein Wunder, dass mir der kalte Schweiß im Nacken sitzt.

Officer Redhead reibt sich wie gewohnt über den Schnurrbart. »Darüber darf ich Ihnen keine Auskunft geben, Mr Avens. Diese Information hat nichts mit Ihnen zu tun.«

War ja klar, dass er dichthält.

»Und wie steht es mit Ihren Ansichten mir gegenüber? Denken Sie immer noch, dass ich ─ ich zitiere ─ ›schuldig oder unschuldig aus dieser Sache nicht mehr so schnell herauskommen werde‹?«

»Wollen Sie die Antwort wirklich wissen?«

»Hätte ich die Frage gestellt, wenn ich die Antwort gar nicht wissen will?«

Ich bin mir ziemlich sicher, dass Officer Redhead mich sehr gut leiden kann, auch wenn er immer so streng und höflich tut. Sobald das Funkgerät aus ist, sehe ich die Müdigkeit in seinen Augen und die Anstrengung, die es ihn kostet, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Manchmal ─ aber wirklich nur sehr selten ─ heben sich sogar ein wenig seine Mundwinkel, wenn ich ihm einen meiner genialen Sprüche an den Kopf werfe, aber er versteckt das Lächeln schnell wieder hinter einem Räuspern.

Das trübe Licht spiegelt sich in seinen Augen wider und lässt seine Haut blass erscheinen. »Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass Sie viel zu optimistisch sind, Mr Avens. Sie sind immerhin derjenige, der das Opfer tot aufgefunden hat und das so ziemlich genau zu der Zeit, als es gestorben ist. Sie sind außerdem monatelang weggelaufen, anstatt alles von vorne herein richtigzustellen. Und zu guter Letzt gibt es einige Zeugen, die ausgesagt haben, dass Hollyn noch quicklebendig gewesen ist, als sie das Zimmer betreten haben. Sie verhalten sich während unserer Vernehmungen nicht sehr auffällig, wenn man Ihren Optimismus und Ihre Selbstsicherheit unberücksichtigt lässt. Dass Ihre Eltern gegen Sie aussagen, hilft uns auch nicht sonderlich weiter. Außerdem wäre da noch ─«

Ich unterbreche ihn. »Sagen Sie es doch einfach. Mein Optimismus ist jetzt nämlich dahin, also können Sie auch mit der Sprache herausrücken, anstatt um den heißen Brei zu reden.«

»Wie Sie wollen. Ich mache diesen Job nun schon seit sehr, sehr langer Zeit. Es wird Sie vielleicht überraschen, aber solche Fälle wie Ihrer habe ich tagtäglich und sie gehen nur selten gut aus. Meiner Meinung nach gibt es keine Möglichkeit, Sie in irgendeiner Weise vor einer Haftstrafe zu bewahren. Es tut mir leid.«

Officer Redhead reibt sich müde die Augen, nachdem er das Funkgerät ausgeschaltet hat. Ich glaube sogar irgendetwas wie Bedauern in seinem Gesichtsausdruck abzulesen, aber vielleicht liegt das auch nur an seinem Schnurrbart.

Es liegt definitiv an diesem Schnurrbart.

Dean Walker | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt