Kapitel 22

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„Ruby? Bist du das?", fragte mich eine vertraute Stimme. Ich öffnete meine Augen und blickte einer überraschten Sera entgegen. Wie ferngesteuert sprang ich auf und fiel ihr in die Arme. Ich weinte bis ich keine Tränen mehr übrig hatte und Sera streichelte mir die ganze Zeit stumm über den Rücken.

„Kannst du mir verzeihen?", fragte ich mit so leiser Stimme, das ich die Befürchtung hatte, dass Sera es nicht hören konnte.

„Aber ja, Ruby. Wir sind Schwestern, uns verbindet ein ganz besonderes Band. Doch, was ist passiert?", fragte sie überrascht und ich erzählte ihr jede Kleinigkeit. Vom berauschenden Gefühl, das ich bei Luce hatte, bis zum Tod von Lilly erzählte ich ihr alles, wobei sie mir stumm lauschte.

„Du kannst solange, bei uns bleiben, wie du willst. Ich werde einem Dienstmädchen befehlen, dir ein Zimmer herzurichten. Okay?", ich nickte dankbar. Wir befanden uns gerade in einem kleinen Salon mit gemütlichen Sitzmöbeln und einem offenen Kamin. Ich hätte mich hier wirklich wohl fühlen können, doch ich fühlte gar nichts mehr. Mein Herz war in tausend Teile zersprungen und ich fühlte mich leer. Es war, als hätte mir jemand meine Seele aus dem Körper herausgerissen und nur eine leere, leblose Hülle blieb zurück.

2 Wochen später

Ich wachte ein weiteres Mal auf und fühlte mich immer noch so leer wie zwei Wochen zuvor. „Die Zeit heilt alle Wunden", sagt man, doch dies stimmt nicht. Ich war der Beweis. Das erzählt man kleinen Kindern, um ihnen das Vergessen und Verdrängen zu erleichtern, denn tiefe Wunden heilen nie. Es bleibt immer eine hässliche Narbe zurück, die dich daran erinnert. Physische Narben kann man wenigstens verdecken, doch die Narben auf meinem Herzen, auf meiner Seele werden für immer da sein. Kein Arzt der Welt kann sie heilen und wenn er dies behauptet, ist er nur ein weiterer Scharlatan. Ich öffnete meine Augen und blickte auf die Decke. Ich wusste weder welcher Tag heute war, noch welche Uhrzeit wir gerade hatten. Sera hatte mir jeden Tag etwas zu essen aufs Zimmer gebracht, doch egal wie sehr ich mich auch bemühte, ich bekam keinen Bissen hinunter. Immer, wenn ich Hunger bekam, schossen mir die Bilder von Lillys toten Körper in den Kopf und ein metallischer Geruch stieg mir in die Nase. Ein Klopfen durchbrach meine Gedanken und Sera trat zusammen mit Melion in den Raum.

„Hallo, Ruby! Wie geht es dir heute?", fragte mich Sera besorgt. Ich grummelte nur und drehte mich zum Fenster. Draußen schien wie an fast jedem Tag die Sonne und die Vögel pfiffen heitere Melodien, während sie durch die Baumwipfel flogen. Ach, wie gerne ich jetzt ein Vogel wäre. Frei und unbeschwert durchs Leben zu fliegen, muss wirklich ein Segen sein. Ich konnte spüren, wie sich Sera hinter mir auf die Bettkante setzte.

„Also gut! Melion und ich wollten dir etwas sagen". Für Sera war die Situation sichtlich unbequem und sie diskutierte stumm mit Melion, wer mir die Botschaft überbringen sollte. Ich hatte zwar meine Fähigkeiten seit zwei Wochen nicht mehr eingesetzt, doch die Gefühle und Gedanken anderer konnte ich dennoch fühlen und hören. Doch die Schatten und das Feuer erinnerten mich zu sehr an ihn. Die erste Woche hatte ich fast durchgeheult, doch nun hatte ich es endlich geschafft die Trauer abzustellen. Aber die Schmerzen blieben.

„Sera und ich hätten uns gedacht, dass du versuchen könntest, dich wieder mehr zu integrieren. Du weißt schon, Freunde zu finden oder wenigstens dein Zimmer zu verlassen", Melion hatte wohl den stummen Machtkampf verloren. Ich stöhnte kurz auf, bevor ich mich schlussendlich doch zu meiner Schwester und ihren Gefährten drehte. Sera versuchte mich so sanft wie möglich anzusehen, aber eigentlich war sie nur ungeduldig und hoffte auf die richtige Antwort.

„Warum sollte ich das machen?", meine Stimme klang kalt und kraftlos. Seras Blick wurde strenger.

„Du kannst dich nicht dein ganzes Leben in deinem Zimmer verkriechen. Reiß dich zusammen! Du könntest dich wenigsten etwas dankbarer zeigen und uns einmal am Tag im Salon Gesellschaft leisten!", Seras Haare schienen zu brennen vor Wut, doch als Melion seinen Arm auf ihre Schulter legte, beruhigte sie sich wieder. „Bitte!", fügte sie mit gefasster Stimme hinzu. Sie musste meine Antwort eigentlich kennen. Provokativ drehte ich mich wieder zu meinem Fenster und Sera stand wütend auf. Bevor sie den Raum verließ, schmiss sie mir eine Schriftrolle entgegen.

Schattenwesen - Die Hölle ruft dichWhere stories live. Discover now