KAPITEL II | Oberwelt

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Hinter sich vernahm Niek den lauten Knall, der sich schließenden Metalltür. Damit war seine Chance, zurück in den Tunnel zu fliehen, dahin. Er war an der Oberwelt gefangen – beziehungsweise ausgesperrt. Und er war blind und konnte sich nicht wehren.

„Was ist das hier für eine kranke Scheiße!", hörte er einen der Sträflinge neben sich schreien.

„Wir werden lebendig gefressen!", kreischte ein anderer.

Niek zischte seine Leidensgefährten scharf an. „Seid still", fauchte er.

„Wie sollen wir still bleiben?", rief wieder jemand: „Hilfe! Holt uns wieder herein!" Die Worte waren an die Tür gerichtet und sie hallten über die ganze Landschaft.

Haltet doch die Klappe, dachte Niek sich wütend. Ihr macht uns zu den perfekten Ködern. Ihm war klar, dass er zumindest seine Augenbinde so schnell wie möglich loswerden musste, um eben das zu verhindern. Er drehte sich also wieder zu dem Berg um und stolperte durch das Gras und über den unebenen Boden zurück zu der Tür. Die Wand daneben war rau und aus Stein. Vermutlich war die Schleuse mitten in den Berg gefräst worden.

Niek zögerte nicht länger und rieb die Seite seines Gesichts an dem groben Gestein, um seine Augenbinde Stück für Stück über seinen Kopf zu stülpen. Der harte Stein schürfte ihm seine Stirn und die Wange auf. Es brannte, doch er machte unbeirrt weiter, denn das, was ihn erwarten würde, wenn er weiterhin blind blieb, wäre viel schlimmer, das wusste er.

Noch dreimal schürfte er sein Gesicht an dem Stein auf, dann saß die Augenbinde locker auf seiner Stirn und er konnte sie abschütteln, als er seinen Kopf Richtung Boden neigte. Das Tuch fiel auf den steinigen Grund, der langsam in Gras überwechselte.

Niek musste mehrmals blinzeln, um überhaupt etwas erkennen zu können. Die gleißend helle Sonne, die gerade über den Baumwipfeln aufging, war viel zu blendend. Doch dann konnte er seine Umgebung endlich erkennen: Er befand sich am Fuße des riesigen Zodiac-Bergs. Ein Wald mit gigantischen Bäumen, deren Äste sich in weite Baumkronen verzweigten, tat sich vor ihm auf. Der Boden und die Bäume waren teils mit dichtem, satt grünem Moos sowie Flechten bewachsen und Libellen und andere Fluginsekten schwirrten durch die Luft. Tiefer im Wald erkannte Niek große Farnpflanzen wachsen und über den Baumwipfeln erstreckte sich ein unendlicher, wolkenloser Himmel. So ein klares Blau hatte Niek noch nie zuvor gesehen und so ein helles Licht, wie das, was die Sonne abgab, war ihm auch völlig fremd. Doch es war wunderschön.

Für einen Augenblick vergaß er, in welcher Situation er sich befand. Dann senkte er seinen Blick wieder und entdeckte die Gefangenen, die nicht weit von ihm entfernt vor dem Wald standen. Vor den hohen Bäumen sahen sie winzig klein aus und die lockere Gefängniskleidung, die ihnen vom Leibe hing, ließ sie noch schwächer und hilfloser wirken. Niek musste genauso armselig aussehen.

Dann vernahm er wieder dieses Fauchen, Brummen und Gackern. Der tiefe Ton ließ einen Schauder seinen Rücken herabwandern und sorgte dafür, dass sich alle seine Haare aufstellten. Und dann sah er, wie sich die Farnwedel zur Seite senkten und ein Drache aus dem Dickicht trat. Auch die anderen Gefangenen schienen seine leisen Schritte vernommen zu haben, denn sie verstummten augenblicklich.

Das Wesen musste zirka zwei Meter groß sein und gehörte damit zwar längst nicht zu den größten seiner Art, aber für Nieks Geschmack war es trotzdem noch zu groß. Sein schlanker Körper war bedeckt mit Federn, die seinen Körper in diversen Brauntönen schmückten. Es hatte eine lange, mit spitzen Zähnen beschmückte Schnauze und mit Krallen besetzte Hände. Hinter dem Drachen schlug ein langer, befiederter Schwanz von links nach rechts. Es lief auf zwei kräftigen, langen Beinen mit krallenbesetzten Füßen. Einer der Zehen war wie eine Sichel nach oben gebogen, perfekt zum Töten.

Dragontale - Etappe IWhere stories live. Discover now