KAPITEL X | Karnivore

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Gerne hätte Skalli das Wasser verlassen, jedoch wagte er es keinen Muskel zu bewegen und dadurch das Wasser in Bewegung zu bringen. Jedes noch so kleine Geräusch, jede noch so kleine Regung könnte einen möglichen Jäger aus seiner Deckung locken.

Das würde er gerne vermeiden – er war unbewaffnet und ohne Schutz und Dimer allein könnte keinen großen Drachen aufhalten und erst recht kein Rudel. Es war seine eigene Schuld, dass sie sich in dieser Situation befanden, das wusste Skalli. Er hatte die Reise auf die leichte Schulter genommen, weil er schon so häufig am Mondscheinsee war und die letzte Reise mit Mares zusätzlich noch so glimpflich verlaufen war. Er hätte nicht mit Dimer allein herkommen sollen. Er hätte sich die Zeit nehmen sollen, mit einer richtigen Patrouille über den Fußweg die Reise anzutreten, aber dazu war er zu ungeduldig gewesen, nachdem er vier Jahre lang darauf gewartet hatte, dass jemand wie Mares zu ihnen stieß.

Nun warf Dimer ihm vom Ufer aus, einen bedeutsamen Blick zu. „Was sollen wir tun?", riefen seine Augen.

Skalli zeigte wie in Zeitlupe auf Nino, der nervös im Gras saß und zu dem Kamm des Vulkans hinaufblickte. Seine ganze Körperhaltung schrie danach, dass er fliehen wollte, doch er blieb sitzen, denn er war ihnen treu.

Sie konnten sich in ihrer momentanen Lage einen Kampf nicht leisten. Dimer musste sich so schnell wie möglich verwandeln und er selbst musste zu Nino gelangen, um davonfliegen zu können. Das Glasgestein trug er in seinen Taschen, also gäbe es keine Verluste, wenn sie nur schnell genug wären.

Es gab keine andere Möglichkeit – sie mussten rennen. Und das tat Skalli. Mit einem Mal setzte er sich in Bewegung. Das hüfthohe Wasser bremste ihn und gab ihm das Gefühl gegen eine Wand zu laufen. Der See um ihn herum fing an Wellen zu schlagen und zu plätschern. Und da erkannte Skalli am Vulkankamm einen Schatten auftauchen. Und noch einen und einen dritten.

Drachen – Raptoren, um genau zu sein. Sie sahen so aus, wie das Rudel, welches Mares bei seiner Ankunft an der Oberwelt angegriffen hatte, nur etwas kleiner. Aber auch sie trugen ein Federkleid, besaßen einen langen Schwanz und tödliche Krallen. Sie schwärmten über den Hügel und kamen in das Tal hinabgeströmt. Ihre langen, fächergleichen Schwänze zogen sie hinter sich her wie Ruder, die die Luft zerschnitten.

Der Geschlechtsdimorphismus zeichnete sich bei ihnen durch die Gefiederfarben ab. Einige von ihnen – die männlichen Exemplare – trugen nämlich Federn mit auffälligen Farben. Sie schimmerten grün und blau und gingen an den Spitzen ins Schwarze über, während die Weibchen weniger auffällig waren.

Skalli versuchte an Tempo zuzunehmen, parallel dazu pfiff er nach Nino. Der Flugdrache kam ihm entgegengekrochen, wobei er sich auf seinen Beinen und Armen abstützte. Das Ufer schien nur quälend langsam näher zu kommen, während die Drachen knurrend und fauchend angestürmt kamen.

Als Skalli das Ufer erreichte, sprang er ohne Umschweife auf Ninos Rücken. Dieser breitete seine Arme und somit seine Flügel aus und stieß sich mit seinen Beinen vom Boden ab. Dimer verwandelte sich im selben Augenblick und floh in die Lüfte. Neben sich konnte Skalli einen der Raptoren im Augenwinkel erkennen. Er wandte seinen Blick gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Drache mit einem gewaltigen Satz in die Höhe sprang und seine Kiefer aufriss. Er konnte jeden einzelnen Zahn im Licht der Sonne glänzen sehen, während Nino ein weiteres Mal verzweifelt mit seinen Flügeln schlug.

Sie würden es nicht schaffen, verstand Skalli. Sie waren zu langsam. Danach reagierte er wie auf Knopfdruck – ohne darüber nachzudenken. Im Kampf war jede Sekunde kostbar. Wenn der Drache Ninos empfindliche Flügelmembran zerbeißen würde, könnten sie ihre Flucht an den Nagel hängen. Der General lockerte also seinen Griff von dem Flugdrachen und ließ sich von ihm herunterfallen. Mit einem gezielten Tritt seiner stachelbesetzten Stiefel, traf er den Raptor direkt am Kopf. Das Tier ließ ein gequältes Jaulen gefolgt von einem wütenden Zischen ertönen. Skalli erreichte derweil den Boden und rollte sich auf der schiefen Grasebene ab.

Dragontale - Etappe IWhere stories live. Discover now