KAPITEL XX | Das Gesicht der Stadt

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Niek verstand nicht, was genau vor sich ging, aber er vertraute Skalli, deshalb fragte er nicht weiter nach. Dazu hatten sie keine Zeit.

Ihr vorheriger Plan war es gewesen, dem König das Sinornith-Gift heimlich zu verabreichen, am besten durch eine offene Wunde. Sie musste nicht groß sein, ein unscheinbarer Kratzer würde genügen. Doch nun hatten sich die Pläne geändert.

„Wir haben beide etwas von dem Gift", flüsterte Skalli ihm leise auf der Treppe zu. Noch immer wirkte das große Anwesen wie ausgestorben. „Egal was passiert, irgendeiner von uns muss es, nein, wird es schaffen, Hendrik Van Loon das Gift zu verabreichen oder ihn auf eine andere Art das Leben zu nehmen. Das ist das Wichtigste. Wenn entschieden werden muss, ob einer von uns den jeweils anderen rettet oder den König tötet, dann entscheidet derjenige sich, den König zu töten."

Niek gefiel es ganz und gar nicht, worauf das hier hinauslief. Sie hatten gesagt, leise und unbemerkt herein und genau so auch wieder heraus. Man würde gar nicht merken, dass sie da gewesen waren, ehe es zu spät war. Das war ihr Plan. Ihr neuer klang jedoch wirklich, wie eine Icarus-Mission. Sie würden fallen. Sie würden es womöglich nicht zusammen wieder an die Oberfläche schaffen.

Entgegen all seiner Instinkte nickte er. Sein Herz schlug rapide in seiner Brust. „Okay."

Skalli nickte ebenfalls, dann sagte er: „Folg mir."

Das werde ich immer, dachte Niek sich. Seit er bei den Aufständlern aufgenommen wurde, hatte er nichts anderes getan.

Sie überwandten die letzten Treppenstufen zum dritten Stockwerk. Auch der Flur dort lag leer vor ihnen. Zu ihrer rechten taten sich eine Reihe von mannshohen Fenstern auf mit klarem, ebenem Glas und der rote Teppich war verziert mit einem goldenen Rand, als wäre die Tatsache, dass sich die Königsfamilie einen edlen Teppich leisten konnte, noch nicht genug. Auf der linken Seite des Flures gab es insgesamt fünf Türen aus Holz.

„Die Mittlere ist die des Königs", murmelte Skalli. Dann setzte er vorsichtig einen Fuß von der Treppe auf den Teppich – so vorsichtig, dass man hätte meinen können, Skalli hätte Angst, dass bei jedem noch so kleinen Fehltritt, ihnen das ganze Gebäude um die Ohren fliegen würde.

Dann setzten sie einen Fuß vor den anderen. Niemand ließ sich blicken.

Sie erreichten die erste Tür – kein noch so leises Geräusch.

Sie erreichten die zweite Tür – plötzlich sprang diese auf. Aus ihr heraus strömten vier bewaffnete Soldaten und aus der ersten Tür, die sie vor wenigen Herzschlägen noch hinter sich gelassen hatten, strömten vier weitere Soldaten. Sie hätten nicht so unachtsam sein sollen und jedes Zimmer in Augenschein nehmen sollen, anstatt sich nur auf ihr bloßes Gehör zu verlassen. Nun saßen sie in der Falle. Von beiden Seiten rückten in graue Uniformen gekleidete Soldaten heran und einen Fluchtweg gab es nicht, es sei denn sie wären scharf darauf, aus dem Fenster des dritten Stocks zu springen.

Niek ließ seinen Blick über die Feinde schweifen und erkannte dabei den Glatzkopf – Perkins – wieder, der ihm damals die Nachricht überbracht hatte, dass man ihn zur Todesstrafe verurteilt hatte. Ob er ihn auch wiedererkennen würde? Sicherlich nicht. Vermutlich hätte der Mann ihn nicht einmal erkannt, wenn er noch genau so aussehen würde, wie damals. Als Oberoffizier nahm er sicherlich tonnenweise Menschen fest. Unter ihnen würde Niek nicht auffallen.

„General?", flüsterte Niek Hilfe suchend zu dem anderen. Sie standen Rücken an Rücken, jeder von ihnen behielt eine Seite im Blick. Noch machten die Soldaten keine Anstalten sie anzugreifen, doch ihre Schwerter hatten sie gezückt und sie behielten jede Regung der Eindringlinge im Blick.

Der glatzköpfige Oberoffizier erhob seine donnernde Stimme: „Ergebt euch oder wir bringen euch gewaltsam dazu."

„Egal, was passiert", zischte Skalli an Niek zurück, ohne der gesprochenen Drohung weiter Beachtung zu schenken. „Wir müssen zur dritten Tür."

Dragontale - Etappe IDonde viven las historias. Descúbrelo ahora