KAPITEL XXXI | Zu Hause

202 19 1
                                    

Die nächsten Sekunden spielten sich wie ein Film vor Nieks Augen ab. Er sah den Pfeil wie in Zeitlupe auf sich zu fliegen. Sein ganzer Körper erstarrte. Er sollte ausweichen, schoss es ihm durch den Kopf. Nach rechts, nach links, nach unten. Egal wohin. Doch sein Körper wollte sich nicht regen. Und dann schob sich plötzlich ein Blitz in sein Sichtfeld. Nein, eine Flamme. Und dann verstand er, dass es Amalia war, mit ihren Haaren die wie Feuer hinter ihr her schwirrten.

Die Pfeilspitze durchbohrte ihren Brustkorb und der Aufprall warf ihren Körper nach hinten, gegen Nieks Brust. Er fing die Frau unter den Armen und legte sie langsam und vorsichtig auf dem Boden ab.

„Amalia!", rief er entsetzt.

Die roten Augen der Frau versuchten sich auf ihn zu richten, doch sie konnte sich nicht auf einen klaren Punkt fokussieren und zuckten von einer Seite zur anderen. Ihr Atem rasselte. Der Pfeil, der aus ihrem Fleisch ragte, sah grotesk aus.

„Amalia!" Skalli kniete sich ebenfalls vor seiner Ersten Offizierin nieder.

Bente und Freyning, der mittlerweile auch auf der Bühne eingetroffen war, blickten entsetzt zu der Verletzten herab, doch sie blieben stehen und richteten der Menschenmasse vor ihnen nicht den Rücken zu. Noch befanden sich weiterhin Feinde unter den Menschen im Bezirk.

„Ihr seid Monster und Mörder und Lügner!", schrie weiterhin einer der Bogenschützen und die Menschen um ihn herum wurden merklich unruhig.

„Hört auf zu schießen!", rief Freyning da über die Menge. Er trug noch immer seine graue Soldatenuniform mit seinem Abzeichen als General. Die Wächter und Soldaten, die zuvor noch ihre Waffen gezückt hatten, warfen sich verunsicherte Blicke zu und ließen dann tatsächlich langsam ihre Schwerter und Bögen sinken. „Verdammt noch einmal! Man kann mit den Oberweltlern reden, seht ihr das nicht? Sie werden uns nicht töten, ihr Hass hat sich lediglich gegen den König gerichtet!"

Die Situation beruhigte sich merklich und Niek richtete seinen Blick wieder auf Amalia, die schwer röchelnd am Boden lag. Dann blickte er zu Skalli auf. Seine Augen waren glasig, bei dem Anblick blieben Niek die Worte im Hals stecken.

„Amalia", hauchte der General.

Die Frau zwang sich zu einem Lächeln, ihre spitzen Zähne waren mit glänzendem Blut überzogen. „Mit Freyning an unserer Seite, können wir es schaffen", krächzte sie: „Wir werden unser Ziel erreichen, du musst nur weiter machen."

Skalli nickte, seiner Kehle entfloh ein Klagelaut. „Mach ich", versprach er mit brüchiger Stimme.

Für einen Augenblick schaffte sie es, sich zu konzentrieren und ihren Blick auf Skalli zu richten. Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Niek glaubte ihn zittern zu sehen. Für eine kurze Weile schauten die beiden sich nur an. Amalia lächelte, Skalli sah gequält aus. Dann richtete Amalia ihren Blick auf Niek.

„Und du", hauchte sie schwach. Dann hustete sie und spuckte Blut. Niek packte ihre Schulter sachte, so als würde er ihr versichern wollen, dass es okay war. Was auch immer okay sein sollte. „Pass auf ihn auf." Dabei nickte sie herüber zum General.

Niek erwiderte ihr schmerzhaftes Lächeln genauso gequält und nickte. „Versprochen", sagte er.

„Ihr schafft das", krächzte sie. Dann schloss sie ihre Augen und seufzte erschöpft. „Ganz sicher", murmelte sie.

Skalli streckte seine Hand aus, um Amalia über die Wange zu streicheln. Die Erste Offizierin lächelte ein letztes Mal, dann sanken ihre Mundwinkel, als ihre Muskeln erschlafften und sie ihren letzten Atemzug tat.

Für einen Moment starrten die beiden schweigend auf die Verstorbene. Erst nach weiteren, verstrichenen Herzschlägen erinnerte Niek sich daran, wo sie sich gerade befanden. Er hob seinen Kopf zu den Menschen des Bezirks Leos, doch alle schwiegen. Sogar Vanessa beobachtete die Szene vor sich wortlos und mit schockiertem Blick.

Dragontale - Etappe IWo Geschichten leben. Entdecke jetzt