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Es ist ein merkwürdiges Gefühl mit Sicherheit zu wissen, dass der eigene Tod bevorsteht. Ich hatte immer Angst vor dem Tod gehabt. Vor der Ungewissheit, was mich umhüllen würde, sobald er seine Arme um mich schlang. Und doch schien er ein bisschen weniger beängstigend, weil ich wusste, dass ich dabei nicht alleine sein würde.

Harold und ich wussten Beide, dass wir das Ritual so schnell wie möglich durchführen mussten, da wir die Zeit nutzen mussten, in der Paxton schwach war. Und doch schienen wir beide es hinauszögern zu wollen. Ich beobachtete, wie Harold hinter dem Haus ein Loch aushub. Sein Gesichtsausdruck war blank, während er mit dem Spaten immer tiefer grub und ich beschloss, nach draussen zu gehen und ihm Gesellschaft zu leisten.

„Warum benutzt du deine telekinetischen Fähigkeiten nicht?“, fragte ich und Harold zuckte zusammen. Er blickte kurz über die Schulter, dann drehte er sich wieder um.

„Ich habe Euch gar nicht bemerkt“, meinte er und fuhr dann damit fort, Erde zur Seite zu schütten. „Wie lange steht Ihr schon da?“

„Noch nicht allzu lange. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Ich will mich beschäftigen damit ich nicht zu sehr über das nachdenke, was bevorsteht“, murmelte Harold. Mit diesen Worten legte er den Spaten beiseite und ich blickte weg, als er sich eine der Leichen, die neben dem Loch lagen, schnappte und sie achtlos hineinwarf. Das Knacken von Knochen verkündete mir, dass sie auf dem Grund aufgeprallt war und ich blickte auf meine Hände. „Ist das nicht anstrengend? So ein Loch zu graben?“

„Ihr habt es selbst schon einmal getan.“

„Nein, habe ich nicht“, antwortete ich verwirrt.

„Ihr habt das blonde Mädchen begraben das mit Euch in die Villa gekommen ist.“ Ich blickte zögerlich über meine Schulter und Harold sah mich fest an.

„Joleen?“

„Ja, ich denke das war ihr Name.“ Wieder war ein Knacken von Knochen zu hören als Harold den Körper eines Jungen in das Loch warf.

Meine Hand schloss sich um den silbernen Anhänger an meiner Halskette. „Möge sie in Frieden ruhen“, flüsterte ich leise zu mir selbst, doch ich war mir sicher, dass Harold es ebenfalls hörte. Ich sah, wie sich seine Lippen bewegten, doch ich konnte nicht ausmachen was er sagte. Er warf die restlichen Leichen in das Loch und deckte es dann wieder mit der Erde, wobei ich ihm so gut wie möglich mit den Händen half und als wir fertig waren, war es still.

„Ryanne?“

Ich sah hoch.

„Ich weiss, uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, Harold hielt inne und blickte gen Himmel, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, dann trafen seine grünen Augen auf meine. „Aber ich würde liebend gerne meine letzten Stunden auf dieser Erde wie ein normaler Mensch verbringen. Könnt Ihr mir zeigen, wie das geht?“

Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, wusste ich selbst nicht mehr recht, wie sich ein normaler Mensch benahm. Aber ich versuchte, mich so gut wie möglich daran zu erinnern und da Harold das Gelände nicht verlassen konnten, entschlossen wir uns, in den Wald zu gehen.

Es war merkwürdig, neben ihm zu gehen und zu wissen, dass ich mich vor gar nichts zu fürchten hatte – während meiner Zeit in der Villa hatte ich tagsüber meistens geschlafen, da mein Tag-Nacht-Zyklus so verdreht war; und jetzt merkte ich, wie viel ich verpasst hatte. Tatsächlich wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass Harold ein Geist war, wenn ich es nicht gewusst hätte, so menschlich sah er im Tageslicht aus. Es war ungewohnt, nicht bei jeder Berührung zurückzucken zu müssen und nicht gebannt darauf warten zu müssen, dass seine Augenfarbe sich in ein milchiges Weiss verfärbte; sie blieb immer strahlend grün.

Nach einiger Zeit getraute ich mich sogar, mich bei ihm einzuhaken. Dies schien mir angebrachter als seine Hand zu halten und er hielt den Kopf gesenkt, während ich ihm von meinem früheren Leben erzählte.

Gelegentlich fragte er mich nach meinen Freunden, nach meinen Hobbies und der Musik, die ich hörte. Es war nicht wirklich überraschend dass ihm Fall Out Boy absolut nichts sagte.

So gingen wir eine halbe Ewigkeit durch den Wald und tauschten Geschichten aus. Auch er erzählte mir von seinem menschlichen Leben, auch wenn er nicht mehr viel davon wusste. „Ich weiss noch, wie versessen meine Eltern darauf waren, dass ich mich vermählte. Sie nannten mich unreif, einen Kindskopf“, er schmunzelte und Grübchen bildeten sich auf seinen Wangen, „und hofften, dass mich die Ehe etwas zähmen möge.“

„Ich kann mir das nicht vorstellen, so jung zu heiraten.“ Und dann spürte ich einen Stich in meinem Herzen, als ich realisierte, dass ich niemals heiraten würde.

 „Früher“, erklärte ich, um nicht weiter darüber nachzudenken, „sind meine Freunde und ich gerne in den Wald gegangen, um ein Lagerfeuer zu machen, zu quatschen und Alkohol zu trinken.“ Es fühlte sich so an, als würde ich von einem anderen Leben erzählen, obwohl ich genau das vor nicht allzu langer Zeit noch getan hatte. „Hier“, meinte ich und deutete auf die abgebrannte Feuerstelle, nach der wir die letzte halbe Stunde gesucht hatten.

Durch das Dickicht der Bäume war der Himmel nicht zu erkennen und wenn ich ehrlich war, machte mich das nervös. Ich hatte Angst, dass wir nicht vor Dämmerung zurück sein würden.

„Seid Ihr nervös?“

Ich nickte und sah Harold fest an. „Ich will einfach dass das alles vorbei ist. Diese ständige Angst.“

Harolds Mundwinkel hoben sich. Aber nicht weil er mich auslachte, es war eher ein beruhigendes, sanftes Lächeln. „Fürchtet Ihr Euch? Jetzt, meine ich?“

Ich schüttelte den Kopf und spürte, dass es die Wahrheit war. Ich hatte keine Angst in dem Moment.

„Gut.“ Er beugte sich leicht vor und ich zögerte nicht, meine Lippen auf seine zu setzen. Noch nie hatte ich mich so sicher gefühlt wenn ich ihn küsste und es war ein tolles Gefühl. Sein Mund passte perfekt auf meinen, meine Lippen schmiegten sich um seine und der Schauer, der meinen Körper erfasste, als er mich küsste, war kein Angstschauder sondern pures, gutes Adrenalin. Während wir uns küssten, vergass ich die Zeit und wo wir uns befanden, bis ich in die Realität zurückkatapultiert wurde, als er sich von mir löste.

Wir atmeten heftig und sein Atem strich über meine Unterlippe, als er sich löste. „Wir sollten zurück“, flüsterte er, presste seine Lippen noch einmal kurz und drängend auf meine, ehe er sich erhob. „Es wird bald dunkel.“

 

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt