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Dies geschah so unerwartet und abrupt, dass ich an meinem Verstand zweifelte. Ausser dem beissenden Schmerz in meinem Rücken zeugte nichts davon, dass die soeben erlebte Szene real gewesen war, und ich richtete mich zögernd auf, stieg aus der Wanne und zog mich hastig an. Das Gefühl des Stoffes der über meine offene Wunde glitt liess mich nach Luft schnappen, doch ich biss die Zähne zusammen und schlich dann, als ich fertig war, zur Tür hinaus.

„Hallo?", fragte ich leise und ging langsam den Gang entlang. Wo war er hin?

Harold war so abrupt und unerwartet verschwunden, dass es mir beinahe Angst machte, und die jetzt herrschende Stille brachte mich nicht unbedingt zur Ruhe. Seine plötzliche Reaktion verwirrte mich. Das war ein Grund, weshalb ich ihn finden wollte; der zweite war die unerträglichen Schmerzen zwischen meinen Schulterblättern. Zum zweiten Mal, seit ich in diesem Haus war, wollte ich, dass er mich heilte, und der sich schnell ausbreitende Schmerz trieb mich voran. Ich suchte überall.

In seinem Zimmer, im Wohnzimmer, in der Eingangshalle, in der grossen Küche, welche im untersten Stock war, ich sah sogar im Keller nach ob er sich da versteckte, doch Harold war unauffindbar.

Ich seufzte und setzte mich vor dem grossen Spiegel, der in einem der unteren Zimmer stand, um mir selbst in die Augen zu sehen.

Ich sah ausgelaugt aus und sehr, sehr müde.

Dunkle Schatten lagen unter meinen Augen, meine Haut war bleich und mein Haar hatte an Glanz verloren. Als ich mit meinen Fingern durch fuhr, spürte ich, wie stumpf es war.

Die Wunde an meinem Rücken ziepte wieder, und ich zog meinen Pullover aus um ihr eine Pause zu gönnen.

Was war da soeben passiert?

Warum war er weggerannt?

Weshalb hatte er mir nicht die Kehle aufgeschlitzt, obwohl er ganz genau wusste dass ich ihn (in seinen Augen) hintergangen hatte?

Und warum zur Hölle tat es mir leid?!

Ich wandte mich zum Spiegel, und als ich die klaffenden Wunden zwischen meinen Schulterblättern wahrnahm, wurde es mir wieder bewusst.

Ich musste weg. Ich hatte jetzt schon zu viel Zeit damit verschwendet, Harold bei Laune zu halten und in seiner Vergangenheit herumzustöbern, dass ich ganz vergessen hatte, was ich ursprünglich gewollt hatte. Seine Abwesenheit liess ein neues Gefühl durch meine Venen rauschen: Hoffnung.

War jetzt der perfekte Zeitpunkt? Ich streifte mir meinen Pullover wieder über und zischte vor Schmerz auf als der weiche Stoff die offene Wunde an meinem Rücken streifte.

Schliesslich biss ich die Zähne zusammen und wog ich meine Chancen ab; Ich war schwach, doch, soweit ich bis jetzt gesehen hatte, fühlte er sich bei Sonnenlicht nicht wohl/schwächte ihn das Tageslicht, womit eine Flucht bei Tag geschickter wäre als eine bei Nacht. Doch was wäre wenn er mich dabei erwischen würde?

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung wie stark diese Seite von Harold war und ich wusste, dass ich ein grosses Risiko damit einging einen Fluchtversuch zu starten, doch ich musste es tun.

Der Gedanke an zu Hause gab mir Mut, verstärkte die Hoffnung in mir und machte mich stärker als ich mich je gefühlt hatte.

Das Adrenalin, welches zudem durch meine Adern pumpte, gab mir ein unglaubliches Gefühl von Unbesiegbarkeit und ich stand entschlossen auf. Ich würde ihn nicht gewinnen lassen.

Das Haus war still, als ich heraustrat und durch das Wohnzimmer an der grossen und alten Standuhr vorbeiging. Es war beinahe zu still. Nur das Ticken der Uhr erfüllte die Luft, und in der Ferne hörte ich ein Windspiel. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals als ich so schnell und leise wie möglich durch die leeren Räume huschte und mich der angelehnten Haustür näherte.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt