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Der salzige Geschmack meiner Tränen benetzte meine Lippen, während ich so dalag. Die Geschehnisse der letzten Stunde vernebelten meine Gedanken und mein geschwollener Hals schmerzte, als ich unablässig schluchzte. Er hatte Recht gehabt. Ich war ganz allein.

Ich hatte niemanden mehr. Nur noch ihn. Und für ihn lohnte es sich nicht, zu leben.

Für eine kurze Zeit schaffte ich es, tief durchzuatmen. Ich schnappte nach Luft und rieb mir die Augen, mein Brustkorb erzitterte, während ich versuchte, mich zu beruhigen, doch sobald meine Gedanken zurück zu meiner Mutter wanderten, brach es wieder aus mir heraus.

Meine Augen waren fest zugepresst und mein Kopf pochte unablässig, als meine Finger Halt an dem weichen Kissen fanden und sich daran klammerten.

Ich wollte sterben.

Mir entwich ein erschrockenes Kichern in dem Moment, in dem ich realisierte, was ich soeben gedacht hatte. Noch nie hatte ich auch nur einen Gedanken daran verschwendet, zu sterben. Ich war immer eine Kämpfernatur gewesen, jemand, der niemals aufgibt, ganz egal wie hart es auch erscheinen mag.

Doch was, wenn es nichts mehr gibt, was das Kämpfen wert ist?

Ein zittriges, freudloses Lachen entwich meinen Lippen und ich wandte mich auf die andere Seite. Meine Lippen fühlten sich geschwollen an und als ich mit meinen Fingern darüberstrich, erinnerte ich mich daran, dass er mich geküsst hatte. Mir wurde schwindlig und ich kniff die Augen fest zusammen, bevor ich unter genässten Lidern hoch an die Decke starrte und sich ein Kloss in meinem Hals bildete.

Was auch immer er für ein Spiel spielte, ich würde nicht mitspielen. Auch wenn das hiess, dass er mich tötete.

Zwei Tage vergingen, ohne dass ich Harold zu Gesicht bekommen hätte.

Als ich aufwachte, fand ich einen Teller mit Essen auf dem Nachttisch vor, welches ich aus dem Fenster kippte; ich hatte keinen Appetit.

Der Geschmack, der meinen Mund erfüllte, war der Geschmack von Tränen, die regelmässig meine Wangen hinunterflossen, vermischt mit Blut. Es war kein angenehmer Geschmack, doch ich hatte keine Lust, meine Zähne zu putzen.

Ich hatte auch keine Lust, mich zu bewegen, und schon gar nicht hatte ich Lust, diesen Raum zu verlassen.

Ich hatte zu gar nichts mehr Lust.

Auch am zweiten Tag gelüstete es mich nicht nach Essen, obwohl mein Magen hörbar knurrte. Ich ass dennoch nichts; wozu sollte ich etwas essen, wenn ich sowieso nicht mehr leben wollte?

Ich sah immer dasselbe vor mir. Stundenlang.

Der grosse Raum mit den langen Vorhängen an dem gigantischen Fenster. Der Schminktisch, dessen Spiegel angelaufen war, ein monströser, antiker Schrank an der Stirnseite des Zimmers und das Himmelbett, auf dem ich sass. Der Parkettboden sah spröde aus.

Kein einziges Mal verliess ich diesen Raum. Es gefiel mir, alleine zu sein, nur ich und meine Gedanken.

Mein Blick war, wie so oft auf die Verzierungen an der Wand gerichtet, während ich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt da sass. Meine Schulter schmerzte bestimmt etwas, da Harold sie mir zwei Nächte zuvor beinahe ausgerenkt hatte, doch ich spürte den Schmerz nicht.

In mir hatten sich während der letzten 48 Stunden völlige Gleichgültigkeit ausgebreitet. Nachdem ich mir bewusst geworden war, dass es mir egal war, ob ich sterben würde oder nicht, verlor auch jede andere Tätigkeit ihren Sinn. Meine Beine waren an meinen Körper gezogen und meine Arme um meine Schienbeine geschlungen, während ich ins Leere starrte. Nichts ausser meinen leisen Atemstössen war zu hören und gelegentlich das Pfeifen eines Vogels, der draussen im Garten herumhüpfte.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt