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Der nächste Tag verlief nicht viel anders als der vorherige. Ich stand auf, packte mir Putzzeug und begann Kommoden, Tische, Stühle, Bilder, was auch immer mir unter den schmutzigen und ehemalig weissen und nun schwarzen Stofflappen kam, abzuwischen.

Doch mit den Gedanken war ich ganz woanders, nämlich bei dem dicken Buch das immer noch gut versteckt unter meiner Schlafmatte lag. Die wenigen Worte die ich bisher gelesen hatte hatten mich in ihren Bann gezogen und mich juckte es geradezu in den Fingern um weiterzulesen. Dennoch wusste ich, dass ich vorsichtig sein musste; obwohl mir Harold gestern Morgen wohlgesinnt gewesen war , war ich mir seinen Stimmungsschwankungen und seiner Unberechenbarkeit bewusst und ich wollte gar nicht erst wissen was er mit mir anstellen würde sobald er herausfand dass ich sein Tagebuch gelesen hatte.

Ich war im Esszimmer und wischte über die Tischfläche aus Mahagoni als meine Gedanken zum Inhalt seiner Worte zurückkehrten.

Seit ich wieder zu Bewusstsein gekommen bin höre ich Stimmen in meinem Kopf. Eine Stimme, sie spricht mit mir.

Eine Stimme.

Entweder litt Harold an Schizophrenie (sofern das bei einem Geist möglich war) oder war wirklich von einem Dämon besessen. Seit ich dieses Haus betreten hatte hegte ich keine Zweifel an übernatürlichem Geschehen, dennoch hoffte ich immer noch, naiv wie ich war, dass dies doch alles nur ein Traum war.

Oder vielleicht, flüsterte eine kleine Stimme in meinem Kopf, ist er einfach von Grund auf böse.

Ich seufzte und liess den Lappen in dem Eimer fallen. Wie eine Rauchwolke breitete sich der Schmutz in dem klaren Wasser aus und verfärbte es schwarz. Gedankenverloren starrte ich ins Wasser und erschrak mich, als mich ein zweites Spiegelbild anstarrte.

Ich machte einen Satz zurück und hob den Kopf. Hatten Geister Spiegelbilder? Offensichtlich schon, denn meine Augen hatten mich nicht getäuscht: er stand bei dem Eimer nahe des Tisches und fixierte mich mit seinen sanften grünen Augen, seine Mundwinkel leicht gehoben.

„Ihr solltet ein Bad nehmen."

Hatte er mich gerade indirekt beleidigt indem er mir sagte dass ich stank? Mein Selbstbewusstsein erlitt einen Schlag, genauso wie mein Kopf als ich mit einer Höllengeschwindigkeit gegen eine Tür gedonnert wurde, die sofort aufsprang.

Ich fiel zu Boden, rappelte mich wieder hoch und ging rückwärts als Harold immer näher auf mich zukam, seine Blick hielt den meinen fest und das Lächeln lag immer noch auf seinen weich geschwungenen Lippen.

„Russspuren zeichnen sich auf Euren Wangen, Mylady."

Ich spürte wie sich Wut in meinem Bauch zusammenballte. Ich schlief in einem feuchten Keller und schwitzte mich halb zu Tode während ich seine Villa putzte und er mir regelmässig den Arm brach.

Wenn ich etwas nicht ausstehen konnte dann war es Kritik an meiner Person selbst.

Ich wandte den Blick und erspähte ein Feuer das im Kamin in der Ecke brannte, sowie ein Waschbecken und ein gigantischer, antiker Spiegel an der Stirnseite des Zimmers und schliesslich eine Badewanne in der Mitte.

Den Raum kannte ich bereits; ich hatte ihn heute morgen bis aufs Gründlichste geputzt und dabei über den Sinn des Lebens nachgedacht.

„Ihr seid aufgebracht."

Natürlich spürte er wie ich mich fühlte. Ich versuchte meine Wut, die sich langsam mit Adrenalin vermischte, zu zügeln, versuchte sie zu unterdrücken indem ich mich von der Schönheit des Feuers im Kamin ablenken liess, doch vergebens.

Innert Sekundenschnelle fand ich mich gegen die harte Wand gepresst wieder, Auge in Auge mit Harold und mein Herz begann vor Angst zu rasen.

„Beruhigt Euch", sprach er, seine weiche Stimme klang süss wie Honig.

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt