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Ich wusste, dass meine Entscheidung entgegen aller Vernunft war. Vielleicht war die Schuld auch meinem benommenen Zustand zuzuschreiben, als ich zögernd nach Harolds ausgestreckter Hand griff und seine Finger meine mit Kälte umhüllten. Harolds Mundwinkel hoben sich und er führte mich zur Tür, seinen Blick nicht von mir lösend. Ich blickte zaudernd über die Schulter, sah die zusammengesackte Leiche in der Ecke noch ein letztes Mal an, bevor ich mich mit einem Schaudern wieder zu Harold umwandte, welcher mich jetzt hinaus den Gang entlangführte, Richtung Eingangshalle. Die Musik wurde mit jedem Schritt, den wir nahmen, lauter und mein Mund wurde zunehmend trockener, je näher wir der grossen Halle kamen. Die Tatsache, dass wir nun unsere Schritte verlangsamten, machte mich nervös.

Ich konnte nicht tanzen.

Jedenfalls nicht so.

Natürlich hatte ich schon auf Partys getanzt, aber ich nahm schwer an, dass Harold unter tanzen etwas anderes verstand als ich es tat. Mein Verdacht wurde bestätigt als wir innehielten, Harold mich etwas näher zog und seine freie Hand an meine Hüfte rutschte.

„Berührungsängste?", flüsterte Harold in mein Ohr, als ich von der Berührung zusammenzuckte und ich schüttelte den Kopf.

Sein Arm schlang sich etwas fester um mich und seine Hand fand zwischen meinen Schulterblättern Halt, seine andere schlang sich um meine.

Ratlos, was ich mit meiner freien Hand machen sollte, zögerte ich. Harolds Mundwinkel zuckten. „An meine Schulter", half er mir und ich spürte, wie ich rot wurde, dann platzierte ich meine Hand an gesagter Stelle und versuchte, mich bloss auf die Musik zu konzentrieren, die durch die riesige Halle klang. Ich kannte das Stück; ich war zwar kein Liebhaber der klassischen Musik, doch jahrelanges Klavierspielen hatte mir gelehrt, dass Beethoven einer der bedeutendsten Komponisten der Zeit gewesen war und es erfüllte mein Herz mit wohlwollender Wärme, die vertrauten Klänge in mich aufzusaugen.

Mein Blick driftete ab und glitt über die Fensterscheiben zu meiner Linken, die kunstvoll verzierten Fensterrähmen und die dunkle, massive Holztür. Der Raum sah atemberaubend aus; er war ganz in goldenes Licht getaucht, der Marmorboden unter unseren Füssen glänzte im Schein der vielen Kerzen, die überall brannten und ich fragte mich, wie lange es wohl gedauert haben musste, um die alle anzuzünden. Es waren hunderte von Döchten, die flackerten und gespenstische Schatten an die Wände warfen.

Es war wunderschön.

Harolds sanfte Stimme brachte mich zurück in die Realität. „Ist alles in Ordnung?"

Ich wandte meinen Kopf zu ihm und musterte ihn, verblüfft, wie gut er doch in diesem Raum passte. Die unglaubliche Schönheit der Halle, die mich vorhin noch so fasziniert hatte, verblasste gerade zu, wenn man sie mit der des wunderschönen Jungen vor mir verglich. Die moosgrünen Augen, die mich fixiert hatten und die vollendete Kontur seines Gesichtes, die hohen Wangenknochen und die perfekten, dunkelbraunen Locken raubten mir den Atem.

Er war makellos.

Ein Teil in mir kämpfte gegen diese Erkenntnis an, versuchte, den Teil von mir, der glaubte, dass etwas Gutes in Harold steckte, vom Gegenteil zu überzeugen.

Er hat deinen Vater umgebracht.

Die Worte hallten in meinem Kopf wider und ich spürte, wie ich zu zittern begann, mein Griff um das bisschen Stoff an Harolds Schulter verstärkte sich. Hatte Harold das wirklich getan?

Nein, Paxton hatte es.

„Ryanne?" Harolds Stimme erinnerte mich daran, dass ich ihm noch eine Antwort schuldig war und meine Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen Lächeln. „Es ist alles in Ordnung."

„Aber?"

„Ich", ich suchte verzweifelt nach etwas Passendem, das ich sagen konnte, „ich kann nicht tanzen."

Grübchen erschienen auf Harolds Wangen als er breit grinste. „Und das macht Euch nervös?"

„Ich- nein, ich bin nicht nervös", log ich und ihm entwich ein heiseres Kichern.

Plötzlich verstärkte sich sein Griff um mich und bevor mir klar wurde, was geschah, bewegten wir uns. Harold musste ein wirklich guter Tänzer sein, dass er es schaffte, mich zu führen, ohne dass ich ihm auf die Füsse trat und mein Herz pulsierte schmerzhaft schnell, während wir dahinglitten.

Ich fühlte mich völlig ausgeliefert und dachte, dass ich womöglich gerade ziemlich lächerlich aussehen musste. Dazu musste ich mich immer wieder versichern, dass ich nicht aus Versehen einen falschen Schritt machte, weswegen mein Blick gelegentlich auf unsere Füsse fiel.

„Seht mich an." Harolds Stimme war geschmeidig und ich sah erschrocken hoch. Sein Engelsgesicht, das von dunklen Locken umrahmt war, schimmerte in dem dämmrigen Kerzenlicht und ich spürte, wie mein Herz noch schneller klopfte.

Harold lächelte sein schönes Lächeln und ich zwang mich zu grinsen, absolut sicher, dass er das laute Geräusch hörte. Unser Tempo verlangsamte sich und mein Blick war nun nur noch auf sein Gesicht geheftet, der seine auf meins. Seine Augen waren so grün. Ich versuchte mich an das letzte Mal zu erinnern, wann seine Augen weiss geworden waren und ich stutzte.

Es musste bereits mehrere Tage her sein.

Er hatte mich auch schon lange nicht mehr körperlich verletzt, auch seelisch hatte er mich verschont. Hatte Harold Mitleid mit mir, dass er mich verschonte? Oder war Paxton mittlerweile schwächer geworden, so dass Harold ihn unterdrücken konnte?

„Woher wisst Ihr so viel über mich?" Harolds Stimme war sanft und dennoch wäre ich vor lauter Schreck beinahe gestolpert.

„Ich- ich weiss nicht was du meinst", murmelte ich und versuchte, mich auf die Tanzschritte zu konzentrieren, was jedoch unmöglich war.

Er konnte meine Gedanken lesen. Mein Puls ging hoch, als sich Harolds Hand aus meiner löste und sich seine beiden Arme um meinen Oberkörper schlangen, mich noch näher an ihn ziehend. Da ich nicht wusste, was ich jetzt mit meiner freien Hand machen sollte, legte ich sie an seine Hüfte und unterdrücken ein Schaudern, als er etwas in mein Ohr raunte.

„Woher wisst Ihr, dass dieser Körper bloss noch eine leblose Hülle ist, wie ein Wirt von einem Parasit besetzt wurde?"

„Sprichst du von Paxton?", fragte ich langsam und ein warmer Atemstoss fuhr über die Haut an meinem Ohrläppchen, als Harold leise lachte.

„Paxton", seine weiche Lippen berührten mittlerweile mein Ohr, „ist in meinem Hirn verankert. Wie ein Parasit sitzt er in meinem Körper, zerfrisst mich von innen. Bringt mich dazu, Dinge zu tun, die ich nicht tun will", hauchte er und ich erschauderte.

Wie es sich wohl anfühlte seinen Körper mit jemandem zu teilen? Zurückgedrängt zu werden und jemand anders Besitz und Kontrolle über alles ergreifen zu lassen? Wie lange dauerte es, bis man eins wurde mit dem, was einem beherrschte?

„Wir sind nicht eins." Wir hatten nun aufgehört zu tanzen und meine Hände verkrampften sich als Harolds Lippen meiner Wange entlang zu meinem Mund glitten und kurz vor meinen innehielten.

Ich versteinerte.

„Wir sind zwei vollkommen verschiedene Persönlichkeiten, gefangen in ein und demselben Körper. Wisst Ihr eigentlich, wie schwer es ist, jemanden zu begehren, wenn der andere Teil von Euch diese Person verabscheut?"

Mein Herz klopfte nun zunehmend schneller als ich die Bedeutung seiner Worte realisierte.

„Heisst das-"

„Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um Euch vor ihm zu beschützen.“ Er machte eine Pause. 

„Ich begehre Euch, Ryanne."

PhantomWo Geschichten leben. Entdecke jetzt