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Alex wusste viel, sehr viel. Es war beinahe beängstigend, wie viel er wusste und als es draussen langsam dunkel wurde und die Putzfrau begann, die mit zahlreichen Büchern bepackten Regale abzustauben, sassen wir immer noch auf denselben Hockern am Fenster und unterhielten uns. Kurz nach sechs wurden wir jedoch unterbrochen und die Bibliothekarin scheuchte uns wortwörtlich zur Bücherei heraus, ohne dass wir vorhin die Bücher noch hätten versorgen können. Am liebsten hätte ich noch einige mitgenommen, um sie noch einmal genau zu studieren, aber da ich keinen Bibliotheksausweis hatte, war es mir nicht gestattet. Das machte mich wütend und ich hätte der Bibliothekarin am liebsten ins Gesicht geschrien, entschied mich dann aber aufgrund von Alex' Einwand, dass es das nicht wert war, dagegen.
Als wir nach draussen traten, war es relativ kühl und ich zog meine Kapuze hoch. Meine Hände versteckte ich in meinen Ärmeln und ich konnte spüren, wie die klirrende Kälte meine Wangen röten liess. Sie kühlte meinen erhitzten Körper herunter und gefror den Schmerz an meinem Arm ein.
„Mach' dir nichts draus, du kannst ja zuhause immer noch im Internet weiter recherchieren. Ist für mich sowieso ein Rätsel, warum du das nicht gleich gemacht hast, man trifft heute selten noch Leute in der Bücherei an wo es doch bequemer ist, die gesuchten Informationen zu googlen."
Ich sah hoch. Hätte ich die Option gehabt, im Internet zu recherchieren, hätte ich das getan, denn ich war definitiv keine Buch-Person. Tatsächlich hatte ich heute, bevor ich gegangen war, unseren Router zuhause ausgetestet, doch dieser hatte bloss rot aufgeblinkt und gesagt, dass keine Verbindung vorhanden war.
„Hab kein Internet zuhause", meinte ich also knapp und Alex sah mich ungläubig an.
„Was? Warum denn das?", fragte er und lachte etwas unsicher. Ich zuckte nur mit den Schultern.
„Wenn du willst, können wir zusammen in das Cafe gleich um die Ecke gehen, da gibt es freies W-LAN und die hausgemachte Schokolade da ist köstlich. Die solltest du mal probieren. Also selbstverständlich nur, wenn du das willst", räumte er hastig ein, als er meinen Gesichtsausdruck sah und kratzte sich verlegen lächelnd am Hinterkopf. „Ich dachte einfach, dass das vielleicht eine bessere Idee ist als hier rumzustehen."
Ich sah ihn weiterhin verwirrt an. Lud er mich gerade dazu ein, mit ihm etwas trinken zu gehen? Das konnte ich nicht tun. Ich wollte nicht mit ihm alleine sein. In der Bibliothek war das etwas anderes gewesen, da war das Personal da gewesen, doch was wenn er mich auf dem Weg zum Café angriff und mich entführte? Was, wenn er bloss so gut über Dämonen Bescheid wusste, weil er selbst einer war? Was, wenn er gar nicht real sondern bloss eine weitere Halluzination war, etwas, das Paxton mir vorgaukeln wollte? All diese Fragen schossen mir durch den Kopf während Alex immer noch auf meine Antwort wartete und mein Schweigen schien er als ein Nein zu deuten.
„Na gut", meinte er leise, „das heisst dann wohl nein. Aber du kannst mir schreiben oder mich anrufen, wenn du noch mehr über diese Biester wissen willst, okay? Warte, ich gebe dir meine Nummer." Ich sah ohne einen Mucks zu, wie Alex seinen Rucksack auszog, Stift und Block raus nahm und dann etwas auf den Block kritzelte. Als er fertig war, riss er das Papier ab und streckte es mir hin, ich nahm es zögernd entgegen.
„Und deine Nummer? Kannst du mir die geben?" Seine Augen funkelten kurz auf, doch dieses Funkeln verschwand sofort als ich langsam den Kopf schüttelte.
„Hab' kein Handy." Meine Gedanken schweiften wieder ab, rasten die Landstrasse herunter an den Waldrand, weiter zur Styles Villa. Mein Handy, oder zumindest das, was davon übrig war, war da. Ich konnte mich noch lebhaft daran erinnern, wie Harold es zerstört hatte.
„Oh... das ist ungewöhnlich."
„Mh."
„Nun denn, dann lass ich mich einfach überraschen. Ruf' mich an, sobald du die Möglichkeit hast, an ein Telefon zu gelangen." Als er das sagte, fiel mir ein, dass er meinen Namen immer noch nicht wusste, doch ich machte keine Anstalten, ihm zu sagen, wer ich war. Wenn ich das tat, würde ich etwas über mich preisgeben, ich würde ihm Informationen liefern, die es ihm erleichtern würden, mich zu finden. Und was, wenn er in Wirklichkeit ein kranker Mörder war? Ich schüttelte kurz energisch den Kopf, um diesen völlig abwegigen Gedanken loszuwerden. Es verängstigte mich, dass ich überhaupt auf solche Gedanken kam - aber ich konnte nicht anders. Ich schien niemandem mehr zu vertrauen.
„Falls du das Beschwören der Elemente üben möchtest, stehe ich dir gerne zur Verfügung. Schade, dass wir keine Zeit hatten, das zu tun."
Mein Magen hüpfte kurz, dann begannen die Zahnräder in meinem Hirn zu arbeiten. Vielleicht wäre es doch nicht so dumm, das zu üben. „Ja", hörte ich mich sagen.
Und so kam es, dass ich mich von Alex dazu überreden liess, zu ihm nach Hause zu kommen, um diese ganze Sache zu üben. Ich wusste selbst nicht recht, warum ich das entgegen meines schlechten Gefühls tat; doch das mulmige Gefühl in meinem Bauch kam erst wieder zum Vorschein, als wir bereits vor der schäbigen Eingangstür seiner Wohnung standen. Es war ein relativ altes Haus und als Alex die Tür öffnete und das Licht anschaltete, war ich mir ziemlich sicher, dass er alleine wohnte. Im Eingangsbereich stapelte sich das Altpapier, als ich einen kurzen Blick in die Küche erhaschte sah ich nicht abgewaschenes Geschirr herumstehen und im Wohnzimmer lag Wäsche über dem Sofa ausgebreitet.
„Tut mir leid für das Durcheinander, ich habe nicht erwartet, dass heute noch jemand anders als ich die Wohnung betritt", sagte Alex kleinlaut und begann, die Wäsche zusammen zu sammeln. „Du kannst dich gerne setzen."
Trotz seinem Angebot blieb ich stehen, vergrub meine Hände in den Taschen meiner Kapuzenjacke und sah mich ausdruckslos um. Im hohen Fenster links von mir konnte ich mein Spiegelbild sehen, wie ich etwas verloren da stand und mich umblickte. Es war kein erfreulicher Anblick, also begutachtete ich die Playstation ganz in meiner Nähe. Zwei Controller lagen am Boden, daneben die Hüllen von Call Of Duty und Gran Turismo. Die Couch, die vor dem Flachbildfernseher stand, sah ziemlich alt und benutzt aus, die orangene Farbe war ausgeblichen und der Wohnzimmertisch war über und über bedeckt mit Magazinen.
„Wenn dir kalt ist kann ich gerne die Heizung ein bisschen hochdrehen", meinte Alex, der gerade wieder ins Zimmer kam und beäugte meine Kapuzenjacke. Ich wandte den Kopf, die Kapuze war immer noch oben, machte aber keine Anstalten, sie auszuziehen. „Nein danke", erwiderte ich leise.
Alex begann nun, die Magazine auf dem Tisch zu stapeln. „Verrätst du mir eigentlich irgendwann auch noch deinen Namen?", meinte er, „tut mir leid, ich komme einfach nicht drauf woher ich dich kenne."
Ich zögerte. „Jocelyn", sagte ich schliesslich und meine Stimme zitterte leicht als ich meinen zweiten Vornamen aussprach.
„Noch nie gehört", antwortete er, offensichtlich etwas enttäuscht.
Ich senkte den Blick, meine Haare fielen mir nun ins Gesicht, doch ich strich sie nicht beiseite. Ich hob lediglich meine Hand, um an meinen Fingernägeln zu knabbern. Dabei stierte ich ins Leere und nahm gar nicht richtig wahr, wie Alex mir lang und breit erklärte, wie hübsch er meinen Namen fand und wie öde sein eigener war und schreckte hoch, als er um meine Aufmerksamkeit bat.
„Willst du erst etwas essen oder etwas trinken?"
„Nein danke", sagte ich trotz meiner ausgetrockneten Kehle.
„Gleich anfangen?"
Ich nickte.
Es dauerte nicht lange, bis Alex' Wohnzimmer völlig umgestellt war. Alex hatte die beiden Sofas zur Seite geschoben, den Tisch in der Mitte ebenfalls an die Wand gestellt und die Lichter gelöscht; das einzige Licht wurde von einer kleinen Lampe auf dem Abstelltisch gespendet. Ich stand etwas verloren im Raum, während Alex die Vorbereitungen traf, bis er mich bat, mich auf den Fussboden zu setzen. Ich gehorchte und zog meine Beine sofort an meine Brust, sobald ich sass und wiegte mich kaum merklich vor und zurück. Mein Blick glitt über die Kerzen, die kreuz und quer am Boden lagen, weil Alex sie vorhin achtlos dahin fallen gelassen hatte. Er kam gerade mit einer Schüssel in den Raum und stellte sie dann vorsichtig neben mir zu Boden. Als ich mich vorbeugte, konnte ich Flüssigkeit darin erkennen. Sie glitzerte in dem schwachen Licht und ich vermutete, dass es Wasser war, doch ich getraute mich nicht, mich zu versichern. Ein Quietschen war zu hören, als Alex die Fensterläden öffnete und so Blick auf einen Balkon bot. Eine zweite Schüssel in der Hand, stiess er die Tür zum Balkon auf und trat hinaus. Eine Weile lang hörte ich nichts, dann sah ich, wie er zurückkam. In der Schüssel war nun eine Handvoll braunen Pulvers, welches ich als Erde identifizierte, als er es neben mir hinstellte. Es dauerte nervenaufreibend lange, bis Alex vorbereitet zu sein schien und in dieser Zeit bewegte ich mich nicht vom Fleck. Ich sass nur da und wartete, bis er endlich zu mir hinüberkam, einen mit einem Tuch bedeckten Käfig in den Händen. Ich konnte sehen, wie sich Gitterstäbe unter dem Stoff abzeichneten und ein Scharren war zu vernehmen, als Alex sich vorsichtig zu Boden sinken liess.
„So", durchbrach er die Stille und stellte dann vorsichtig alle Kerzen in einem Kreis um den bedeckten Käfig auf. Beunruhigt starrte ich diesen an und zuckte zusammen, als sich etwas darin bewegte.
„Keine Angst, es ist ein ganz normales Kaninchen." Alex lachte sanft und zog das Tuch vom Käfig weg. Somit enthüllte er das zitternde Tier hinter den Gitterstäben.
Ich sah verwirrt hoch und fragte mich, wozu wir es benötigen würden. Und als Alex verlegen weg sah, traf es mich mit einem Schlag. Es war unser Versuchsobjekt.
„Glaub mir, ich würde auch lieber einen anderen Weg finden, dieses Ritual zu üben. Aber ich dachte, dass es vielleicht das Beste ist, einen Körper zu nehmen, der relativ schwach ist. Die Stärke des Dämons hängt zwar nicht nur von der des Wirtes ab, aber es grenzt seine Handlungen ein wenn sein Körper schwach ist." Alex lachte kurz auf. „Mein Mitbewohner wird nicht wirklich glücklich darüber sein, dass ich sein Kaninchen dazu verwende, aber was solls." Die Worte klangen hart und ich wusste mittlerweile nicht mehr richtig, ob ich mich vor Alex fürchten sollte oder nicht. Dass er so eiskalt ein Tier mit einem Dämon versehen wollte, sprach definitiv für Züge eines Soziopathen. Aber auf der anderen Seite versuchte er mir zu helfen.
Ich konnte weder nicken noch den Kopf schütteln. Ich hoffte einfach, dass er Witze machte.
Dass er es ernst meinte, merkte ich allerdings, als er anfing, Worte zu murmeln, die ich nicht verstand. Das Kaninchen zog sich in den hintersten Teil des Käfigs zurück und ich konnte sehen, wie seine Flanken zitterten. Ich selbst zuckte zusammen, als Alex „incendium" murmelte und die Kerzen, welche nun im Kreis herum um den Käfig aufgestellt waren, plötzlich aufflammten. Ich sah zu, wie er seine Finger in die Wasserschale tauchte und einige Tropfen über dem Käfig fallen liess, dann griff er nach der Erde, immer noch ununterbrochen murmelnd und streute sie in einem kleinen Kreis um den Käfig herum.
Alex sah sehr konzentriert aus und ich wagte es nicht, ihn zu stören. Bis ein Lufthauch alle Kerzen aufs Mal auslöschte und es still wurde im Raum.
Mein Blick wanderte zu dem Kaninchen. Verändert hatte sich nichts, es sass immer noch gleich verängstigt wie vorhin in dem Käfig und starrte aus dunklen, klaren Augen empor.
Die Käfigtür quietschte, als Alex sie öffnete und das völlig verängstigte Tier zu sich hinlockte. Er hielt seine Hand hin und warf schliesslich ein Leckerli hinein, was das Kaninchen stutzen liess.
Mein Magen verdrehte sich. Ich sah mich unbehaglich in dem abgedunkelten Raum um. Die dunklen Schatten in den Ecken brachten mich zum Schaudern. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was sich in ihnen verbarg und da ich mich nicht damit beschäftigen wollte, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Alex zu. Das weisse Fell des Tiers sträubte sich, als es seine Hand beschnupperte und das Kaninchen schreckte zurück, doch Alex war schneller. Er packte es, obwohl das Tier sich sträubte und kratzte.
„Du musst dir das jetzt nicht ansehen", meinte er zu mir und ich sah zu, wie er brutal nach dem Nacken des Kaninchens griff.
„Was tust du?", fragte ich verstört. „Hör auf damit!"
„Willst du lernen, wie man einen Dämonen verdrängt? Dann müssen wir das hier durchziehen." Sein Blick war fest.
Ich schluckte hart, dann hob ich zögernd meine Hände, um mein Gesicht zu verstecken.
Und dann, ein hässliches Knacken. Ich fuhr zusammen und linste zwischen meinen Fingern hindurch.
„Gut. Nun heisst es nur noch warten", murmelte Alex sanft und ich sah zu, wie er den reglosen Körper des Kaninchens wieder in den Käfig zurücklegte.

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