Kapitel 16 - Das Herz der Stains

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[COLE]

Es fiel mir schwer meine gereizte Stimmung zu unterdrücken, als ich neben Grace den dunklen Gehweg entlanglief. Viel zu viele negative Gedanken jagten mir durch den Kopf und drängten sich in den Vordergrund. Nach wie vor war Joel verbissen dabei, denjenigen zu finden, der für den Hinterhalt vor drei Tagen verantwortlich gewesen war und uns zu dem Altersheim statt der Party geführt hatte. Doch bis jetzt ohne Erfolg.

Jacob hatte sich nur einmal blicken lassen, um die überarbeiteten Motorräder abzuladen, welche selbst ich nicht mehr als unsere identifizieren konnte. Auch, wenn mein Ärger über ihn nicht verflogen war, schätzte ich seine Mitarbeit sehr.

Zac hingegen verbrachte nach der Veranstaltung seines Vater mehr Zeit in der Fabrik, als sonst wo anders. Es war unmöglich, meine Sorgen um ihn zu verdrängen, doch er blockte jedes Gespräch in die Richtung ab und überspielte alles mit seiner guten Laune.

Ich unterdrückte ein Seufzen und sah nach rechts zu Grace. Wenn sie mir meine miese Laune ansah, ließ sie es sich nicht anmerken. Ihre roten Haare wurden alle paar Meter von den Straßenlaternen erhellt, über ihrer Schulter hing ihr Rucksack, und die weite Jeansjacke brachte das Grün ihrer Augen noch mehr zur Geltung. Sie hob den Kopf und sah mich amüsiert an. »Komm schon, langsam kannst du mir verraten, wieso wir unsere Befragung in den Stains so unbedingt in der Nacht und...« sie machte eine ausladende Bewegung. »... hier abhalten müssen.«

Ich musste über ihre Frage schmunzeln. Sie hatte sie mir diesen Abend nicht das erste Mal gestellt. In den letzten Tagen war ich mit unserem Fragebogen in dem von älteren Menschen besiedelten Viertel Grousburn unterwegs gewesen, während Grace sich um ein Neubaugebiet gekümmert hatte. Wir hatten uns jedoch vorgenommen, die Umfrage in den Stains gemeinsam durchzuführen. Ich wusste selbst nicht wieso, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dieser Stadtteil verband uns. Auch, wenn das vollkommen bescheuert klang.

Bei dem Gedanken an die Gegend, durch die wir liefen, beschlich mich jetzt jedoch ein erdrückendes Gefühl. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn ich alleine hergekommen wäre. Zum einen war der Ort, zu dem wir gingen, nicht ungefährlich, zum anderen verband ich mit den Stains Erinnerungen, die nach wie vor schwer auf mir lasteten. So schwer, dass es manchmal hart war, sie vor der Außenwelt zu verbergen. Sie vor Grace zu verbergen.

»Cole?«

Ich verbannte alle düsteren Gedanken und schenkte ihr ein verschmitztes Lächeln. »Du wirst schon noch sehen, wohin wir gehen. Stopp, hier links.« Ich ließ Grace den Vortritt in die schmale Gasse, welche von der Straße abging, der wir bis eben gefolgt waren. Ich folgte ihr in den schmalen Hausdurchgang und passte mich ihrem Schritt an, sodass wir auf einer Höhe waren. Die Hauswände waren brüchig, auf dem Boden lag abgebröckelter Putz und Müll. Der nächtliche Verkehr war in den Hintergrund gerückt, und unsere Schritte wurden von dem verschmutzten Boden gedämpft.

»Langsam wird's gruselig«, murmelte Grace neben mir, doch ich hörte die Belustigung aus ihrer Stimme heraus, und ich musste schmunzeln. Aufmerksam behielt ich die Umgebung im Auge. Die Gebäude wurden mit jedem Meter älter, die Autos weniger und die Straßen verwahrloster. Viele Menschen sahen in den Stains das ärmste Viertel Temporal Citys, doch nur die wenigstens drangen anschließend bis hier hin vor. Wir befanden uns jetzt im Herzen der Stains.

Wie ich vermutet hatte, war Grace noch nie hier gewesen, denn sie sah sich interessiert um und nahm alles in sich auf. Ich versuchte, die Situation durch ihre Augen zu sehen. Ein Mitstudent hatte vorgeschlagen, das Uniprojekt mitten in der Nacht in der gefährlichsten Gegend der Stadt durchzuführen, und führte sie nun, ohne weitere Erklärungen, durch verlassene Gassen und leere Straßen. Trotzem wirkte sie sehr entspannt in meiner Gegenwart. Ob mich das beruhigte oder beunruhigte, wusste ich nicht.

Nobody Gotta Know | ✓Where stories live. Discover now