Kapitel 20 - Bergab

416 57 184
                                    


[COLE]

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit ich Grace in den Arm genommen hatte. Doch inzwischen waren ihre Schluchzer verstummt und ihre Tränen versiegt. Sie bewegte sich nicht, und nur das sanfte heben ihres Brustkorbes versicherten mir, dass ich mir keine Sorgen machen musste. Jedenfalls nicht um ihren gesundheitliche Zustand.

Mein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch, auf welchem eine angebrochene Schnapsflasche stand. Wie schon zuvor verfluchte ich mich für mein Verhalten. Ich hätte mich zurückhalten müssen. Es hätte nie zu dem Kuss kommen dürfen.

Doch ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass der Kuss so sein würde. Schon bei dem Gedanken daran musste ich schlucken. Graces weiche Lippen, die Rundungen ihres Körpers, ihr Duft... All das hatte mich um den Verstand gebracht, beinahe leichtsinnig werden lassen. Aber wieso? Was hatte sich seit dem ersten Kuss verändert?

Ich hatte Grace seitdem näher kennengelernt. Außerdem hatte sie mich heute mit dem Kuss überrascht und... Ich hatte mich voll und ganz darauf eingelassen, anstatt, wie beim letzten Mal, über andere Dinge nachzudenken.

Glücklicherweise hatte ich genug Disziplin aufbringen können, um uns zu stoppen. Ich hätte es mir nie verzeihen, wenn ich jetzt mit Grace geschlafen hätte, während sie unter dem Einfluss von Alkohol stand und es ihr offensichtlich nicht gut ging.

Mit sanften Kreisen fuhr ich über Graces Rücken und strich ihr mit der anderen Hand einige ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ihre Arme lagen um meinen Hals, und ihr Kopf an meiner Brust. Sie starrte auf das Sofapolster, ihre Beine hatte sie auf meinem Schoß angezogen.

Ich blickte mich erneut in der Wohnung um, welche zwar klein, aber gemütlich eingerichtet war. Die Decken waren hoch, der Fußboden aus braunen Dielen und alle Möbel in hellen Tönen gehalten. Ich entdeckte zwar keine Uhr, doch ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu wissen, dass es mitten in der Nacht war.

Ich versuchte das ungute Gefühl, welches sich in mir breitgemacht hatte seit ich zu Grace aufgebrochen war, zu unterdrücken. Die anderen kamen schon zurecht. Wir waren öfter in kleinerer Besetzung unterwegs gewesen. Und in diesem Moment war es mir wichtiger, mich um Grace zu kümmern, als als Guardian unterwegs zu sein. Die Jungs schafften das schon. Und dieser Aussetzer von mir war eine einmalige Sache. Es war eine Notsituation.

Mein Blick blieb an dem Fernseher hängen, auf welchem das Standbild von vorhin inzwischen verschwunden war.

»Was hast du geschaut?«, fragte ich leise, und endlich regte sich Grace, wenn auch nur minimal. Sie wandte den Kopf, um ebenfalls zum Fernseher sehen zu können.

»Meine Lieblingsserie. Sherlock.« Ich hörte das müde Lächeln aus ihrer Stimme heraus und zog sie unwillkürlich ein wenig näher an mich heran. Der Titel sagte mir nicht wirklich viel, außer, dass ich einen Plan für die nächsten Stunden hatte. »Und du meinst die Serie ist sehenswert?«

Grace sah zu mir auf und mein Herz wurde schwer, als ich ihre roten Augen sah. Sie lächelte erschöpft. »Das ist sonst eine Bildungslücke.«

Ich wiegte den Kopf hin und her und zwang mich, den Blick von ihren Lippen zu lösen. »Na dann muss ich ihr wohl eine Chance geben.«

Bevor ich reagieren konnte, löste Grace sich aus meiner Umarmung und beugte sich vor, um nach der Fernbedienung zu greifen. Sie betätigte einen Knopf, der Fernseher leuchtete auf, und die Serie begann. Sie heilt inne und sah mich unsicher an. »Also, natürlich nur, wenn du noch bleiben willst...«

Ohne zu antworten zog ich Grace erneut an mich und ließ mich auf dem Sofa nach hinten sinken. Sie kuschelte sich nach kurzem Zögern an meine Brust, und ich schloss die Augen, als ich ihren Duft einatmete. Dann versuchte ich mich mit aller Kraft auf die erste Folge zu konzentrieren und mich nicht von Graces Nähe ablenken zu lassen. Doch als sie irgendwann zu sprechen begann, wurde mir bewusst, dass alle meine Sinne ununterbrochen auf sie ausgerichtet waren.

Nobody Gotta Know | ✓Where stories live. Discover now